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09/05/2002 09:37

Shakespeare (not) in Love - Literaturwissenschaftler untersucht Shakespeares konträre Botschaften

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    In den vergangenen Jahren erlebten wir einen regelrechten Shakespeare-Boom. Der "Mann des Jahrtausends" (TIME MAGAZINE) ist mehr denn je der weltweit meist gelesene und gespielte Schriftsteller. Verfilmungen wie "Romeo und Julia" mit Leonardo Di Caprio (1996), "Ein Sommernachtstraum" mit Michelle Pfeiffer (1999) oder "Hamlet" mit Ethan Hawke (2000) zeigen: Shakespeare ist längst ein Teil unserer Popkultur geworden. Wie ist diese Konjunktur zu erklären? Der Frage nach der "Aktualität" und der offenbar endlosen "Vieldeutigkeit" von Shakespeares Dramen widmet sich der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich (31) in seinem Buch "Skakespeares Selbstdekonstruktion". Der Titel fasst die zentrale These: Shakespeares Theatertexte enthalten extrem gegensätzliche Bedeutungen. Systematisch spielen sie konträre Botschaften gegeneinander aus. Sie "dekonstruieren" sich in einem fort selbst. Dies hat zu radikal widersprüchlichen Auslegungen und zuweilen bizarren Indienstnahmen geführt.

    Antisemitische Literatur?
    Das wohl kontroverseste Beispiel, das Oliver Lubrich untersucht, ist "Der Kaufmann von Venedig". Das Drama wurde von Adolf Hitler vereinnahmt und im Dritten Reich als antisemitisches Propaganda-Stück gespielt. (Hitler sagte zu seinen Generälen: "Shakespeare hat den Juden als Shylock für alle Zeiten charakterisiert.") Zugleich war und ist die Hauptfigur eine "Traumrolle" für jüdische Schauspieler - so etwa in Ernst Lubitschs "Sein oder Nichtsein" (1942) oder für Fritz Kortner. Das Stück erlebte zahlreiche Aufführungen in Israel. Shakespeares Werk ist offensichtlich ein Problem: Entweder ist die Geschichte um einen reichen Juden, der ein Pfund Fleisch als Kreditpfand aus seinem Schuldner herausschneiden will, antisemitisch (was zuletzt der Literaturkritiker Harold Bloom beklagte), oder aber Shylock muss als positive, tragische Figur uminterpretiert werden (eine solche Tradition gibt es seit Heinrich Heine und Italo Svevo).

    Lubrich schlägt eine Lektüre vor, die gerade dieses Dilemma fruchtbar macht. Er spricht von einem "paradoxalen Antisemitismus". "Der Kaufmann von Venedig", so die These, ist nicht entweder antisemitisch oder nicht, sondern beides zugleich. In dem Maß, in dem das Stück antisemitisch ist, führt es Antisemitismus ad absurdum.

    Mit Hilfe einer Theorie des Soziologen Erving Goffman, der erforschte, wie sich Menschen verhalten, die in irgend einer Weise "stigmatisiert" sind, zeigt Lubrich, wie nicht nur Shylock, sondern die verschiedenen Figuren des Dramas (insbesondere der Narr Launcelot Gobbo, die schöne Tochter Jessica und der Kaufmann Antonio) jeweils auf unterschiedliche Arten von Stigmatisierung reagieren. Indem sich Shylock konsequent in das Feindbild fügt, das ihm seine Umgebung aufgezwungen hat, gerät seine vermeintlich antisemitische Darstellung zu einer sehr genauen Demonstration. Sogar sein erhobenes Messer deutet Lubrich als Verweis auf das eigene "Stigma" (nach der Bedeutung des Wortes ursprünglich ein "Einritzen" in den Körper). Bis ins Detail inszeniert Shylock das antisemitische Klischee eines Juden ("Du nanntest mich einen Hund, bevor ich einer war; jetzt, da ich einer bin, nimm Dich in Acht vor meinen Krallen!"). Bis in einzelne Formulierungen und Gesten parodiert er das Verhalten der Antisemiten. Shylock ist eine negative Figur, die durchaus abstoßen soll. Aber sie ist dies nicht von ungefähr, keineswegs als Bestätigung, sondern als Konsequenz des Antisemitismus. Das Ergebnis ist eine subtile Steuerung der Zuschauer-Reaktionen: Im Hinblick auf die jüdische Hauptfigur durchlaufen wir einen siebenfachen Umschwung von Antipathie zu Sympathie. Shakespeare dirigiert uns hin und her zwischen der Perspektive der venezianischen Antisemiten und der Position Shylocks. "Der Kaufmann von Venedig", schreibt Lubrich, "treibt ein gefährliches Spiel. Das Stück verführt seine Zuschauer zum Antisemitismus, um ihnen dessen Schrecken erfahrbar zu machen."

    Liebe ist...
    Ein anderes Beispiel aus Shakespeares Repertoire der extremen Gegensätze ist "Romeo und Julia", die wohl berühmteste Liebesgeschichte der Welt. Mit der Liebe passiert hier etwas sehr Merkwürdiges. "Wenn von Liebe die Rede ist", erläutert Oliver Lubrich, "tauchen ganz bestimmte Bilder und Begriffe auf: Buch, Lesen, Auswendiglernen und Aufsagen." Das ist kein Zufall, sondern hat etwas zu bedeuten. Wenn man alle diese Stellen (insgesamt vielleicht 30) zusammenfügt, ergibt sich ein überraschend schlüssiges Bild: Zu lieben heißt, Bücher lesen, sich den Inhalt einprägen und bei passender Gelegenheit wieder aufsagen. Liebe ist also keineswegs ein Mysterium, das von alleine zwischen zwei Seelen entsteht, wie es sich die Romantiker vorstellen. Sie ist eine kulturelle Übereinkunft, ein hochgradig konventionelles Verhalten. Damit die Sache funktionieren kann, erklärt Lubrich in diesem ziemlich witzigen Kapitel, müssen beide Partner wissen, wovon die Rede ist. Romeo und Juliet sind bereits verliebt, bevor sie einander kennenlernen. Sie wissen genau, was Liebe sei, sie warten nur noch auf eine Gelegenheit, um all das nachzuspielen, was sie aus der Literatur (heute würden wir sagen: aus Filmen und Popmusik) schon kennen. Das Spannende ist nun, dass Shakespeare diese Erkenntnis in seinem Text versteckt, während das Stück auf der anderen Seite die "wahre Liebe" feiert, wie es ergreifender kaum sein könnte. "Romeo und Julia" ist die hinreißendste Tragödie und zugleich die zynischste Bloßstellung der "wahren Liebe" - "Shakespeare (not) in Love".

    Warum sind solche Mehrdeutigkeiten für Shakespeares Theater so charakteristisch - weit stärker als für andere Formen von Literatur? Lubrich verweist auf die historischen Bedingungen der elisabethanischen Theaterpraxis: Anders als etwa die antike Tragödie oder der französische Klassizismus war Shakespeares Schauspiel eine kaufmännische Unternehmung. Um erfolgreich und finanziell einträglich zu sein, musste es möglichst verschiedene Zielgruppen gleichzeitig ansprechen. Das heißt: Es musste für die unterschiedlichsten Zuschauer verständlich und attraktiv sein - politisch und ästhetisch, für konservative Adelige ebenso wie für betrunkene Bordellbesucher, für Damen der Gesellschaft wie für junge Akademiker. Jeder musste finden, was ihn ansprach. Die Texte sind "mehrfach codiert". Dass Shakespeare dies nicht dadurch erreichte, dass er sich auf einen "kleinsten gemeinsamen Nenner" beschränkte, darin liegt vielleicht das Besondere seiner Stücke, die als "Gebrauchstexte" geschrieben wurden und inzwischen als Inbegriff von Komplexität betrachtet werden. Es handelt sich um eine kommerzielle Kunst, die gerade dadurch eine außergewöhnliche Qualität erlangt hat.

    Das schmale Buch ist als Einführung in Shakespeare und in literaturwissenschaftliche Arbeitsweisen angelegt. Die Modell-Analysen, die Oliver Lubrich vorführt, bieten nebenbei eine Hilfestellung für Schauspieler, die sich mit den jeweiligen Widersprüchen konfrontiert sehen.

    Literatur:
    Oliver Lubrich, Shakespeares Selbstdekonstruktion, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, 202 Seiten, ISBN 3-8260-2093-6, 25 Euro

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
    Oliver Lubrich, Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin, Hüttenweg 9, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 304 18 93, E-Mail: lubrich@zedat.fu-berlin.de


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Language / literature, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     


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