idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
07/17/2003 09:45

"Wer schrieb, fühlte sich frei" - Der Holocaust in den Zeugnissen griechischer Jüdinnen und Juden

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 70.000 Jüdinnen und Juden in Griechenland. Rund 46.000 wurden in Konzentrationslager deportiert. Auf der Grundlage von zwanzig autobiographischen Erinnerungen hat Tullia Santin im Rahmen ihrer Dissertation an der Freien Universität Berlin untersucht, wie griechische Jüdinnen und Juden ihre Verfolgung während des Holocaust erlebt haben.

    Die zwanzig Zeugnisse könnten unterschiedlicher nicht sein. In ihrem Umfang schwanken sie zwischen 13 und 581 Seiten. Hinsichtlich ihrer literarischen Formen handelt es sich, wenn auch nicht immer in Reinform, um einen Brief, Tagebuchaufzeichnungen, Chroniken, Berichte, einen Mischtyp aus den drei letztgenannten, eine romaneske Erzählung, Memoiren und Autobiographien. Zwölf Verfasser wurden in ein Konzentrationslager deportiert, andere von christlichen Freunden versteckt; wieder andere konnten sich in die Berge oder über das Meer retten. Nicht alle überlebten ihre Verfolgung. Ihre Geschichten schrieben sie aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Sprachen. Unter den Zeugen finden sich ein Kind, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen. Was sie bei all ihrer Verschiedenartigkeit verbindet, ist, dass sie - ganz im Sinne eines Zeugnisses - Aussagen über selbst erlebte oder von anderen Häftlingen erfahrene Tatsachen treffen und dass erst die Erfahrung ihrer Verfolgung sie zu schreiben veranlasste.

    Ein Blick auf das Datum der Niederschriften zeigt, dass sie fünf Entstehungsphasen zuzuordnen sind: Einen Brief aus dem Lager schrieb etwa der thessalonikiotische Jude Marcel Nadjari. Er verfasste sein Manuskript während seiner Haft im Konzentrationslager Auschwitz und vergrub es auf dem Krematoriumsgelände. Nadjari war Mitglied des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Wie seinen Mithäftlingen war Nadjari deutlich bewusst, dass er deswegen und wegen seines daraus resultierenden Wissens über den Massenmord keine Überlebenschancen haben durfte. Er verfasste also sein Zeugnis in ständiger Erwartung des Todes. Wer dem Tod so unmittelbar ins Auge sieht, beschränkt sich darauf, das für ihn in diesem Augenblick Wesentliche mitzuteilen. Nadjaris Anliegen bestand darin, der freien Welt Bericht zu erstatten. Angesichts des erwarteten Todes regelte er damit aber auch seine persönliche Hinterlassenschaft.

    Typisch für die zweite Kategorie - die "zeitnahen Zeugnisse", die kurz nach dem Erleben verfasst wurden - ist deren prägnante Kürze. Die Autoren gehen in ihren Beschreibungen lediglich auf die Zeit ihrer Haft ausführlich ein. Umfassender dahingegen sind die frühen Nachkriegszeugnisse aus den ersten Jahren nach der Befreiung. Sie wurden weder heimlich unter Zeitdruck im Konzentrationslager noch in der räumlichen Enge und Provisorität eines befreiten Lagers oder eines Versteckes niedergeschrieben. Statt dessen lebten die Zeugen mittlerweile in sicheren Verhältnissen. Die frühen Nachkriegszeugnisse zeigen ein verstärktes Bemühen, die gemachten Erfahrungen zu verarbeiten. Daher rührt die Nüchternheit der Texte.

    Bis in die 1980er Jahre verhinderte das politische Klima die Aufarbeitung des Holocaust in Griechenland. Die Zeugnisse, die schließlich ab 1981 verfasst wurden, bezeichnet Santin daher als Pioniere. Sie standen am Anfang einer breiteren Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Vernichtung der griechischen Jüdinnen und Juden. Hinsichtlich ihrer Motivation und ihres Anliegens differieren die Zeugnisse dieser Kategorie beträchtlich. Ein verbindendes Element ist ihre inhaltliche Breite, auch wenn diese individuell sehr verschieden gestaltet wird. Anders als frühe Zeugnisse setzen sie nicht erst mit Kriegsbeginn ein und enden nicht mit der Befreiung, sondern berücksichtigen das Leben davor und danach in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Aufgrund der Distanz zum Geschehen bieten sich den Überlebenden vielfache Möglichkeiten der Präsentation und einer Bewertung der Signifikanz ihrer Erfahrungen. Festzuhalten bleibt dabei, dass die Ereignisse umso stärker der Ordnung durch die Schreibenden unterliegen, je mehr Zeit verstrichen ist. Denn aus der Distanz fügen sie sich in den erst im Nachhinein verstehbaren Gesamtkontext ein. Nach Jahren haben die Überlebenden mittlerweile eine dezidierte Kenntnis von den Dingen. In den Zeugnissen verschmelzen die Ereignisse mit dem Bild und dem Verständnis, das die Schreibenden aufgrund ihrer langjährigen Distanz von diesen haben.

    Die überwiegende Mehrzahl der griechisch-jüdischen Zeugnisse zum Holocaust fällt schließlich in die Kategorie der späten Erinnerungen aus den 1990er Jahren. So sehr ihre Distanz von fünfzig Jahren zum Geschehen Übersicht und Weitblick mit sich bringt, so muss sich späten Zeugen die Frage nach der Genauigkeit ihres Erinnerungsvermögens aufdrängen.

    Die Studie ist nicht nur eine schlichte Kategorisierung der Zeugnisse, sondern Tullia Santin untersucht gleichzeitig, wie die Opfer ihre Verfolgung für sich verarbeitet haben. Wie bildete sich im Wandel der Zeit ihre Identität zwischen den beiden Polen "griechisch" und "jüdisch" heraus? Welche Faktoren erhöhten oder verringerten die Überlebenschancen während der Lagerhaft? Wie nahmen die Opfer die Täter wahr? Hinsichtlich ihrer griechisch-jüdischen Identität weicht ein zunächst häufig geäußertes Gefühl der Fremdartigkeit gegenüber der christlichen Bevölkerung schließlich einem erstarkenden griechischen Nationalbewusstsein. Die Identität verlagert sich also von "jüdisch" zu "griechisch". Auch im Konzentrationslager entschied insbesondere die Nationalität über Leben und Tod der Häftlinge. Die inhaftierten Griechinnen und Griechen waren stolz auf die Beteiligung ihrer Landsleute am Aufstand des Sonderkommandos von Auschwitz, was ihre Selbstachtung stärkte und ihren Überlebenswillen förderte.

    Bei der Untersuchung der Täterbilder, die die griechischen Jüdinnen und Juden entwickelten, lässt sich eine überraschende Verlagerung der Schuld auf die Gemeindeführung ausmachen, durch die die tatsächlichen Aggressoren entlastet werden. Die Überzeugung, aufgrund ihrer fortgeschrittenen Assimilation keiner Gefahr ausgesetzt zu sein, fördert die Vertrauensseligkeit der jüdischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen. Darüber hinaus wirken die enge Lokalbindung der Verfolgten und die mühsam erworbenen Identifikation mit der Heimat nun wie ein Bumerang, der Fluchten verhindert.

    Tullia Santin kommt zu dem Schluss, dass für das (Über-)Leben griechischer Jüdinnen und Juden während des Holocaust das Herkunftsland eine unerwartet große Rolle spielte und dass ihre Nationalität sowie ihre Heimatverbundenheit maßgeblich ihr Handeln und Denken in Zeiten der Verfolgung und Haft beeinflussten. Diese sich im Verlauf der Untersuchung stets aufs neue bestätigende Feststellung zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte.

    Literatur:
    Tullia Santin, Der Holocaust in den Zeugnissen griechischer Jüdinnen und Juden", Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 20, Berlin: Duncker & Humblot, 2003, ISBN 3-428-10722-5

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Tullia Santin, Tel.: 0211 / 16795-64, E-Mail: santin@patmos.de


    Images

    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Psychology, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).