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08/28/2003 08:11

Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Eine typisch deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis zum Wirtschaftswunder

    "Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?" Unter diesem provokanten Titel hat Peter Süß, Historiker, Buch- und Fernsehautor, seine Dissertation an der Freien Universität Berlin veröffentlicht. In ihr setzt er sich mit der über hundertjährigen Unternehmensgeschichte der Berliner Firma Ehrich & Graetz auseinander. Bekannt als Marktführer für Petroleum- und Gasleuchten, lieferte Ehrich & Graetz während der Weltkriege Waffen und Munition, war besonders erfolgreich mit der Herstellung von Förderpumpen und Elektrik, um in den Zeiten des Wirtschaftswunders Schwarzweißfernseher und Musiktruhen zu liefern. Im Dritten Reich führte die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Juden zu einem Aufstieg des Geschäfts bis hin zu einer Monopolstellung. Mit Hilfe eines zehn Meter umfassenden Aktenbestandes des Unternehmens sowie durch Auswertung vieler anderer Quellen gelingt es Peter Süß auf überzeugende Weise, eine spannende Berliner Firmengeschichte im Spiegel der deutschen Zeitläufe zu erzählen.

    1859 entwickelte der Berliner Klempnermeister Albert Graetz die erste einwandfrei brennende Petroleumlampe und stieg damit vom Handwerker zum Fabrikherren auf. Gemeinsam mit dem Kaufmann Emil Ehrich gründete Graetz 1866 die offene Handelsgesellschaft "Ehrich & Graetz". Das Geschäft weitete die Produktion auf Hänge-, Tisch- und Wandlampen sowie auf Petroleumöfen aus. Wenig später wird eine moderne Produktionsstätte im damaligen Berlin SO 36 eröffnet. Als Vater Albert 1889 die Firma auf seine Söhne überträgt, zählt sie über 100 Angestellte. 1899 zieht das Werk in einen Fabrikneubau in das sich entwickelnde Treptow. Der Wechsel von Petroleum- auf Gasfabrikate führte zum Durchbruch der Gasbeleuchtung im Industrie-, Geschäfts- und Wohnungssektor. Noch heute zeugen aus dem Deckenstuck senkrecht stehende Gasrohre in Berliner Altbauwohnungen von der revolutionären Neuerung.

    Der Kriegsausbruch im August 1914 traf die deutsche Industrie überraschend. Die Londoner und Pariser Tochterfirmen Erich & Graetz wurden beschlagnahmt. Die englische Seeblockade verhinderte die Sicherung der Ernährung und der zur Produktion nötigen Rohstoffe. Nur kriegswichtige Industrien konnten noch versorgt werden. Rasch stellte die Firma ihre Produktion auf Waffen und Munition um. Bis 1917 wuchs der Markt bei garantierter Abnahme. Nachdem das Heer 1918 alle Bestellungen storniert hatte, spürte die Wirtschaft die Abschnürung vom Weltmarkt und brach zusammen. Nicht wenige Firmen profitierten vom Krieg. Unter ihnen Erich & Graetz.

    Durch und durch Patriarch, gehörte Max Graetz zu den Kritikern der Weimarer Republik. Die Bilanzsumme der Ehrich & Graetz AG vervielfachte sich zwar durch die Inflation von 507,2 Millionen 1922 auf über 52,4 Billiarden Mark im Jahr 1923. Doch trotz der Erweiterung der Produktpalette durch Elektronikgeräte, wie Wasserkocher, Elektroherde und Öfen sowie dem Einstieg in die Radioproduktion, wuchs der Gewinn des Unternehmens nur langsam. Denn nach dem Platzen der kreditfinanzierten Börsenspekulationen hatten die Menschen keine Lust mehr auf Konsum. Auch wuchs während der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosenzahl auf über sechs Millionen an.

    Vertrauend auf die enormen Gewinne, die das Unternehmen im Ersten Weltkrieg erwirtschaftet hatte, konzentrierte sich die Ehrich & Graetz AG ab Ende 1933 auf Kriegsgüterproduktion. Als 1936 Max Graetz starb, trat sein Sohn Erich die Nachfolge als "Betriebsführer" an. Die Firma profitierte vom Nationalsozialismus: Sowohl Arbeitsplätze als auch Produktion, Rentabilität und Umsätze konnten gesteigert werden. Während des 2. Weltkrieges wurde der Ressourcenknappheit mit der Ausbeutung der besetzten Westgebiete begegnet: Was fehlte, waren Arbeitskräfte.

    Im September 1940 errichtete die Ehrich & Graetz AG die erste "Juden-Abteilung". 300 bis 350 Zwangsarbeiter sollten die Produktion garantieren. Die jüdischen Zwangsarbeiter mussten besonders harte Arbeit leisten, wofür sie schlecht oder gar nicht entlohnt wurden und zudem noch in die höchste Steuerstufe eingruppiert waren, an Sonderleistungen nicht teilhatten und von den "arischen" Kollegen abgesondert arbeiten mussten. Die Werksleitung nutzte jeden Spielraum zum eigenen Vorteil aus. Am 27. Februar 1943 umstellte die SS das Gelände der Ehrich & Graetz AG und ließ die letzten jüdischen Arbeiter abtransportieren. Der Betriebsführer Erich Graetz beschwerte sich nur über den schmerzhaften Verlust der Arbeitskraft der "Nichtarier".

    Neben den jüdischen wurden auch russische, französische und holländische Zwangsarbeiter deportiert und in Baracken auf dem Werksgelände untergebracht. Jeder hatte einen Lebensraum von zwei Quadratmetern. Auf dem Höhepunkt der Produktivität arbeiteten bei der Ehrich & Graetz AG etwa 1100 Zwangsarbeiter. Trotz massiver Bombardierung deutscher Industrie- und Stadtgebiete vervielfachte sich die Rüstungsproduktion von 1942 an, bis sie 1944 ihren Höchststand erreichte. Kurz vor Kriegsende wurden Betriebsteile der Ehrich & Graetz AG sowohl nach Lunzenau in Sachsen als auch nach Bregenz gebracht. Ende April 1945 eroberte die Rote Armee Berlin-Treptow.

    Unmittelbar nach dem Krieg wurden neun Zehntel der Maschinen in die Sowjetunion abgeführt. Die verbleibenden Arbeiter reparierten die restlichen Maschinen und nahmen im Sommer 1945 die Arbeit wieder auf. Die Belegschaft lehnte Fritz Graetz als Leiter ab, verdrossen fuhr er zurück in den Westsektor. 1949 wurde die Firma als Volkseigentum zum VEB Fernmeldewerk Treptow.

    Im westfälischen Altena gründeten 1948 Erich und Fritz die Graetz KG und bauten zum Teil mit den während der NS-Zeit nach Bregenz überführten Maschinen ein neues Werk auf. Während des Wirtschaftsbooms in den fünfziger Jahren stellte das Werk Fernseher, Musiktruhen und Strahlenmessgeräte her. 1961 verkaufte Erich Graetz die Firma an die Standart Elektrik Lorenz. Damit endeten fast hundert Jahre Unternehmensgeschichte.

    Peter Süß findet ein treffendes Ende für seine durchweg lebendige und kritische Dissertation: "Die Familie Graetz und ihr Unternehmen von der Kaiserzeit bis in die Bundesrepublik - eine Geschichte von Erfindertum, Solidarität und Erfolg. Aber auch eine von Opportunismus, Niedertracht und Verdrängung. Eine exemplarische Geschichte - und eine sehr deutsche."

    Von Florian Hertel

    Literatur:
    Peter Süß, "Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?" Graetz - Eine Familie und ihr Unternehmen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, 2003, ISBN 3-506-78561-3

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Peter Süß, Tel.: 030 / 31 50 34 63, E-Mail: psbln@gmx.de


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    Criteria of this press release:
    Electrical engineering, Energy, History / archaeology, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Research results
    German


     

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