Beim 92. Workshop der Dahlem Konferenzen vom 28. September bis 3. Oktober 2003 "Attachment and Bonding - A New Synthesis" trafen sich 40 internationale Spitzenforscher aus Natur- und Sozialwissenschaften unter der Leitung von Prof. Dr. C. Sue Carter (University of Illinois at Chicago) und Dr. Lieselotte Ahnert (Freie Universität Berlin), um zum ersten Mal die unterschiedlichen Konzepte zu einem Thema zusammenführen, das Experten und Laien gleichermaßen fasziniert.
Wie funktionieren Beziehungen wirklich? Kann man Zuneigung und Bindung messen? Sind ihre Ursachen biologischer oder gesellschaftlicher Natur? Sind Mutter-Kind-Beziehungen das Urmuster für alle anderen Beziehungen? Kann man im Zuge von Evolutionstheorien die sprichwörtliche "Affenliebe" auf den Menschen übertragen? Welche Auswirkungen hat der Charakter sozialer Beziehungen auf menschliches Verhalten und Gesundheit?
Wir dokumentieren hier die kurzen Zusammenfassungen der Diskussionen aus den Arbeitsgruppen, welche die Teilnehmer nach Abschluss der Konferenz zur Verfügung gestellt haben. Die Autoren der Texte stehen für weitere Fragen zur Verfügung.
Arbeitsgruppe 1: Social Attachment as a Biobehavioral Process
Positive Sozialbeziehungen sind ein zentrales Element im Leben aller Säugetiere. Ein intaktes Bindungsgefüge wie zum Beispiel bei uns zwischen Mutter und Kind oder zwischen den Partnern eines Ehepaares ist für Gesundheit und Wohlbefinden der Individuen von entscheidender Bedeutung. Verlust derartiger Beziehungen (zum Beispiel bei Trennung von Mutter und Kind oder dem Verlust eines Ehepartners durch Tod) führt entsprechend beim Menschen und anderen Säugetieren zu starken psychischen Belastungen und zu einem breiten Spektrum immunologischer und hormoneller Stressreaktionen, die die Gesundheit der Individuen beeinträchtigen und sogar zum Tod derselben führen können.
Ziel unserer Arbeitsgruppe war es, die biologischen Grundlagen von Bindung und Zuneigung Fächer übergreifend zu betrachten: Hierbei beschäftigten wir uns zum einen mit den hierfür verantwortlichen bzw. an ihrer Ausprägung beteiligten zentralnervösen Strukturen und den an ihrer Steuerung beteiligten Substanzen - wie zum Beispiel Oxytocin und Vasopressin. Des weiteren waren die durch das Vorhandensein oder Fehlen sozialer Bindungen ausgelösten nervösen, hormonellen und immunologischen Veränderungen und deren Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden der Individuen Schwerpunkt unserer Diskussionen.
Nach unserem heutigen Kenntnisstand scheint es wahrscheinlich zu sein, dass die diesen Phänomenen zugrunde liegenden zentralnervösen und peripheren physiologischen Prozesse innerhalb der Säugetiere relativ ähnlich sind und ein uraltes Erbe unserer Reptilienvorfahren darstellen. Die zum Teil gravierenden Unterschiede in der Bedeutung der Bindungsphänomene für die einzelnen Tierarten - zum Beispiel für die Ausbildung monogamer oder polygamer Sozialstrukturen oder für die Bedeutung der Mitwirkung anderer Individuen bei der Aufzucht des Nachwuchses - sind hierbei Anpassungen an unterschiedliche ökologische Bedingungen und - beim Menschen - auch an unterschiedliche kulturelle Systeme, über deren adaptiven Wert bislang jedoch erst relativ wenig bekannt ist.
Die Diskussionen machten klar, wie wichtig es ist, solche Phänomene wie Bindung - seine psychophysiologischen Grundlagen und Konsequenzen - als ein Produkt der Evolution zu sehen, das sie seit über 100 Millionen Jahren bestimmt hat. Diese evolutionsbiologisch orientierte Betrachtungsweise hat sich seit einigen Jahren auch sehr stark außerhalb der Biologie durchgesetzt und nicht nur zu einem wesentlich besseren Verständnis solch komplexer Phänomene wie Bindung und Zuneigung beigetragen, sie war auch eine entscheidende Basis für den Erfolg unserer Gruppenarbeit.
Prof. Dr. Dietrich von Holst
Universität Bayreuth
Lehrstuhl Tierphysiologie
Tel.: 0921-552470
dietrich.vonholst@uni-bayreuth.de
Arbeitsgruppe 2:
Bi-directional Consequences of Early Social Attachment
- Beeinflussen frühe Bindungserfahrungen die individuelle Entwicklung?
- Wie beeinflussen erste Beziehungen spätere Beziehungserfahrungen?
- Welche Rolle spielt das psychobiologische System Kind - Mutter?
Bindungsverhalten dient dem Aufbau einer Bindungsbeziehung, Bindungsbeziehung ist das Resultat der Qualitäten von Bindungsverhalten, Bindung (attachment) ist ein übergeordneter Begriff und entwickelt sich allmählich in Bindungsbeziehungen. Bonding bezeichnet alle erkennbaren Formen (emotionalen) Zusammenhalts von Tieren und Menschen. Sie können auf Bindung beruhen, prägungsartig entstehen oder Bindung triggern. Bindung ist genetisch programmiert und schützt durch Nähe. Beim Menschen gehen sichere, unsichere und desorganisierte Bindungsqualitäten mit unterschiedlichen sozialen und emotionalen Bindungserfahrungen einher. Physiologische Veränderungen zeigen sich z.B. von bei Hormonen und Neurotransmittern (Oxytozin, Vasopressin, Cortisol) ausgelösten Reakrtionen im Gehirn, im Umgang mit Distress in sozialen Beziehungen, zum Beispiel zu Lehrern, zu Gleichaltrigen, zu Geschwistern, oder zu unbekannten Erwachsenen, sie zeigen sich sachorientiert, beispielsweise in der Art der Aufmerksamkeit, Konzentration, Exploration oder Spielqualität und in Persönlichkeitsstrukturen (sprachliche Kompetenz und Kohärenz, Toleranz bei Frustration, Selbsterkenntnis, Verhaltensprobleme, Kompetenz im Kindergarten, sprachlicher, Neugier, Psychopathologie, Ich-Flexibilität und kognitives Lernen). Ein zukünftig besseres Verständnis der evolutionären Programme lassen folgende Ansätze erwarten:
- Die Entwicklung von Bindung in verschiedenen Kulturen im Rahmen der evolutionären Vorgaben von inklusiver Fitness, d.h. im Hinblick auf den reproduktiven Erfolg.
- Eine interdisziplinäre Theorie des Zusammenspiels von Erfahrungen auf der Verhaltensebene und den psychobiologischen Mechanismen.
- Eine erweiterte Theorie über innere (mentale) Arbeitsmodelle beim Menschen, die kognitive, sprachliche und Bedeutung vermittelnde Prozesse einbeziehen (z.B. Reflexion, Metakognition über Trennung, traumatische Erfahrungen, (therapeutische) Hilfe von anderen).
Die Punkte sind eingebettet in die übergreifende Frage, wie sich frühe Bindungserfahrungen auf spätere psychologische und physiologische (adaptive) Funktionen auswirken.
Prof. Dr. Klaus E. Grossmann
Universität Regensburg
Institut für Psychologie
Tel.: 0941-703659
klaus.grossmann@psychologie.uni-regensburg.de
Arbeitsgruppe 3: Later Social Attachment: Causes and Consequences
Wissenschaftler aus Biologie, Psychologie, Pädagogik und Anthropologie thematisierten Bindungsbeziehungen, wie sie im Erwachsenenalter zu Eltern, Geschwister und Verwandten aufrechterhalten werden, zu Freunden, Lehrern und Betreuern außerhalb der Familie entstehen, sich in Form von romantischen Liebesbeziehungen und dauerhaften Partnerbeziehungen entwickeln sowie als Beziehungen zu abstrakten Ideen und (z.B. religiösen) Überzeugungen existieren. Forschungsergebnisse über Ursachen und Konsequenzen dieser Beziehungsvielfalt wurden aus den unterschiedlichsten Instituten der Welt (Kanada, Deutschland, Schweiz, USA) zusammengeführt. Dabei zeigte sich eine viel größere Verhaltensflexibilität bei Aufbau und Aufrechterhaltung derartiger Beziehung als ursprünglich angenommen, was zu einem erweiterten Konzept von Bindungsbeziehungen führte. Vergleichende Verhaltensstudien an ausgewählten Säugetieren hatten in Kombination mit neurowissenschaftlichen Analysen beispielsweise herausgestellt, dass bereits im normalen Spektrum wechselnder Lebensbedingungen (und nicht nur unter extremen Umweltveränderungen) biologisch angelegte Verhaltensprogramme und ihre neurobiologischen Mechanismen so angepasst werden, dass sie Bindungsbeziehungen entstehen lassen oder auch unterbinden, wenn dies für die Arterhaltung vorteilhaft ist. Obwohl neurobiologische Forschung die Existenz analoger Mechanismen beim Menschen in ausgewählten Phasen der Entwicklung nachweist, konnten psychologische und anthropologische Forschungsstudien darlegen, dass Bindungsbeziehungen im Verlauf der Menschheitsgeschichte einen zentralen Stellenwert im menschlichen Verhaltensspektrum erhielten und deshalb nicht ausgeblendet werden können. Sie stellen dagegen die althergebrachten biologischen Mechanismen in den Dienst von Funktionen, die das Verhalten übergreifend organisieren, es bei Stress regulieren und damit gesundheitsfördernd wirken. Bindungsbeziehungen sind deshalb jedoch keineswegs uniform wirksam. Vergleichende Kulturbetrachtungen führten vielmehr zu der Erkenntnis, dass gesellschaftliche Bedingungen einschneidend eingreifen und die sicherheitsgebende Qualität von Bindungsbeziehungen nur unter bestimmten Bedingungen ausformen. Im Einklang mit diesen Erkenntnissen konnten deshalb erstmalig pädagogische Rahmenbedingungen diskutiert werden, die Betreuungs- und Bildungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in den Blick nahmen und nach den fördernden Bedingungen für die Beziehungen zu Betreuern und Lehrern, aber auch für die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen untereinander fragen.
Prof. Dr. Norbert Sachser
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie
Tel.: 0251-8323884
E-Mail: sachser@uni-muenster.de
Dr. Lieselotte Ahnert
Freie Universität Berlin
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
Tel.: 030-838 55593
E-Mail: lieselotte.ahnert@karowberlin.de
Arbeitsgruppe 4: Adaptive and maladaptive outcomes
Menschliche Entwicklung ist ein lebenslanger plastischer Prozess. Die Organisation der Beziehung zwischen Eltern und dem Säugling oder Kleinkind hat Bedeutung für die weitere Entwicklung bis hin zu dem Risiko psychopathologischer Erkrankungen. Unsere Arbeitsgruppe hat solche Prozesse auf biologischer, physiologischer und psychologischer Ebene dargestellt und dabei Erkenntnisse aus Studien an Menschen und Tieren integriert. Auf dieser Grundlage ergeben sich neue Fragestellungen, die für Präventions- und Interventionsmöglichkeiten bedeutsam sind. Gegenwärtig werden bei etwa 15 Prozent aller Kinder in frühen Beziehungen Verhaltensdisorganisationen festgestellt, was eine beunruhigend hohe Zahl ist. Für einen Teil dieser Fälle ist eine genetische Komponente wahrscheinlich, bei Stichproben mit hohem Risiko (sozioökonomische Faktoren, Vernachlässigung, Misshandlung) steigt der Anteil disorganisierter Kinder auf 80 Prozent, was auf die Bedeutung von Früherfahrungen verweist.
Die zukünftige Forschung sollte neben den familienbezogenen Faktoren auch die potenziell adaptiven Aspekte des weiteren sozialen Umfeldes berücksichtigen, beispielsweise die Qualität der Tagesbetreuung im Kindergarten, Freundschaften im Kindesalter sowie den Einfluss von Lehrern und Ausbildern, die alle für die Bindungs- und Beziehungsentwicklung bedeutsam sind.
Adaptive Entwicklung wird als die Aufrechterhaltung interner und externer Regulation gesehen. Sie sind sowohl Ergebnis sozialer Erfahrungen als auch Determinante der weiteren Interpretation zukünftiger Erfahrung. Menschen haben von Anfang an ein starkes Motiv, aus Erfahrung Sinn zu machen und mit anderen zu teilen.
Präventive Maßnamen und Interventionen können sich auch auf Aspekte der allen Säugetieren eigenen und am Tiermodell untersuchbaren neurophysiologischen Mechanismen beziehen.
Prof. Dr. Axel Schölmerich
Ruhr Universität Bochum
Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie
Telefon: 0234-32-22672
axel.schoelmerich@ruhr-uni-bochum.de
Criteria of this press release:
Biology, Information technology, Law, Politics, Psychology, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results
German
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