„Dur versus Moll“ ist der Titel einer aktuellen Veröffentlichung zur Bedeutung eines musikalischen Elementarkontrasts. Herausgegeben wurde der Band von Prof. Dr. Stefan Keym, Musikwissenschaftler der Universität Leipzig, und seinem emeritierten Kollegen Prof. Dr. Hans-Joachim Hinrichsen von der Universität Zürich. Darin wurde erstmals die Semantik der beiden Tongeschlechter grundlegend historisch erforscht. Im Interview erklärt Stefan Keym, warum für viele seiner Kollegen der Unterschied zwischen Dur und Moll kein Forschungsthema ist und wie diese beiden Tongeschlechter die Deutung von Musik über Jahrhunderte hinweg stark geprägt haben.
Herr Prof. Keym, woran liegt es, dass die Semantik der beiden Tongeschlechter noch nie grundlegend historisch erforscht wurde?
Viele Musikwissenschaftler halten das Thema für trivial, weil ihnen der polare Gegensatz Freude/Trauer oder Triumph/Tragik zu simpel erscheint. Sie beschäftigen sich lieber mit der Tonartencharakteristik, bei der jeder einzelnen Dur- und Molltonart ein Charakter zugeordnet wird. Diese Zuordnungen sind aber sehr subjektiv und setzen beim Hören ein absolutes Gehör voraus. Den Unterschied zwischen Dur und Moll können hingegen die meisten Menschen heraushören.
Zu welchen neuen Erkenntnissen sind Sie und Ihre Kollegen gekommen?
Im 19. Jahrhundert dachte man, Dur und Moll einschließlich ihrer Semantik seien naturgegebene Tatsachen. Durch Vergleiche mit anderen Kulturen sowie Studien mit kleinen Kindern weiß man seit einiger Zeit, dass es sich um ein kulturell bedingtes Phänomen handelt. Unser Band ist die erste umfassende historische Studie dazu: Die 24 Beiträge von namhaften Kolleginnen und Kollegen zeigen, wann diese Semantik erstmals auftaucht und wie sie sich bis in die Gegenwart entwickelt. Die große Relevanz dieser Bedeutungszuschreibung wurde dabei generell bestätigt, aber stark ausdifferenziert: Sie ist weit komplexer als das blockhafte Schwarz-Weiß-Klischee, auf das das Cover unseres Bandes anspielt.
Wann und von wem wurde erstmals zwischen Dur und Moll unterschieden?
Die satztechnische Unterscheidung zwischen den beiden Tongeschlechtern Dur und Moll kristallisiert sich im 16. Jahrhundert heraus. Überraschend und neu war für uns, dass sich erste Tendenzen zur semantischen Nutzung, zunächst von einzelnen Dur- und Moll-Dreiklängen, schon zur selben Zeit abzeichneten.
Haben die beiden Tongeschlechter heute prinzipiell noch die gleiche Bedeutung wie früher?
Ja und nein. Die Freude-Trauer-Semantik ist zwar schon ab etwa 1500 nachweisbar, konkurriert aber zunächst mit anderen Bedeutungszuschreibungen zum Beispiel dur im Sinne von hart und moll im Sinne von weich. Eine Wut-Arie stand deshalb in der Barockzeit in Dur, später hingegen eher in Moll. Bis zu Bach und Händel war Moll nur in Verbindung mit langsamem Tempo negativ konnotiert, erst ab der Klassik im späten 18. Jahrhundert generell. Später wurden mittelalterliche „Kirchentonarten“ und folkloristische Modi wiederentdeckt, bei denen die Mollterz (kleine Terz) nicht notwendigerweise negativ konnotiert ist. In der gegenwärtigen Popularmusik gibt es beides: die „klassische“ Semantik - vor allem im Schlager - und folkloristische beziehungsweise affektneutrale Verwendung, etwa im Rock.
Welches Tongeschlecht wird in der Musik öfter genutzt und warum Ihrer Meinung nach?
Das ändert sich im Lauf der Epochen: Bei Bach sind Dur- und Molltonarten gleich stark präsent. In der Klassik dominiert Dur sehr, mindestens 80 Prozent aller Stücke, und Moll bildet die negative Ausnahme. Im 19. Jahrhundert nimmt Moll wieder zu und dominiert sogar bei einigen Komponisten, zum Beispiel in Tschaikowskys Symphonien. Im 20. Jahrhundert hängt es sehr vom Genre ab. Einen Sonderfall bildet die Avantgarde-Musik des 20. Jahrhunderts, in der die Tonalität und damit auch Dur und Moll ganz aufgehoben wurden. Komponisten, die retrospektiv darauf zurückgreifen, tun das aber oft gerade wegen des semantischen Ausdruckspotenzials.
Prof. Dr. Stefan Keym
Direktor des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig
Telefon: +49 341 97-30450
E-Mail: keym@rz.uni-leipzig.de
Prof. Dr. Stefan Keym
Foto: Swen Reichhold
Criteria of this press release:
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