Wissenschaftler:innen der Arbeitsgruppe Genetik vom Institute of Life Sciences der Universität Leipzig veröffentlichen gemeinsam mit Kollegen der Harvard University, der Brandeis University und der University of Cambridge eine Studie zur Wahrnehmung von Temperaturen durch das Gehirn. Das internationale Wissenschaftler:innen-Team entdeckte erstmals den Mechanismus der Informationsaufnahme von Temperaturveränderungen und das daraus resultierende Verhalten anhand der Drosophila-Larve.
„Die meisten Tiere haben eine Temperaturpräferenz – ein sogenanntes Optimum. Das ist auch bei uns der Fall“, sagt Prof. Dr. Andreas Thum, Leiter der Arbeitsgruppe Genetik an der Universität Leipzig, der mit zwei seiner Studierenden an der Studie teilgenommen hat. „Vielen von uns ist der Winter zu kalt und der Sommer zu warm.“ Die Fragestellung für das internationale Team der Universität Leipzig, der Harvard University, der Brandeis University und der University of Cambridge war daher: Wie nehmen Organismen Temperaturen wahr, und welche Mechanismen ermöglichen es, Temperaturanstiege und -abfälle zu erkennen, und wie nutzt das Gehirn diese Informationen, um dann das Verhalten zu ändern?
Zum ersten Mal beschreiben die Forschenden durch den Einsatz neuartiger genetischer, physiologischer, anatomischer und verhaltensbiologischer Techniken in ihrer Arbeit, die in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht wurde, neue temperaturaktivierte sensorische Neuronen und Moleküle in der Drosophila-Larve. „Da die Untersuchung, wie Überhitzung oder Unterkühlung bei Säugetieren vermieden wird, sehr komplex ist und eine Vielzahl physiologischer Mechanismen umfasst, die von Gefäßverengung und Schwitzen bis hin zu Zittern und motorischen Navigationsprogrammen reichen, ist es wichtig zu verstehen, wie diese Mechanismen funktionieren. Etwas einfacher lässt sich dieses Phänomen bei poikilothermen Tieren wie Fischen, Reptilien und Insekten untersuchen, die ihre Körpertemperatur nicht durch physiologische Mechanismen regulieren können. Diese Tiere sind auf Navigationsmanöver angewiesen, um Regionen zu finden, deren Temperatur näher an ihrem homöostatischen Sollwert liegt. Einige poikilotherme Tiere wie Pythonvipern, Höhlenkäfer und Drosophila-Larven haben eine ausgeprägte neurale und verhaltensmäßige Thermosensitivität entwickelt. Diese Eigenschaft, zusammen mit der starken genetischen Ausstattung von Drosophila, macht die Fliegenlarve zu einem idealen Instrument für die Untersuchung der homöostatischen Regulierung“, erklärt Dr. Luis Hernandez-Nunez von der Harvard University, der Erstautor der Studie.
Diese Entdeckung ermöglichte es den Forschenden, die sensomotorischen Veränderungen zu analysieren, die Fliegenlarven nutzen, um Veränderungen der Umgebungstemperatur zu erkennen und diese Informationen zur Änderung ihres Verhaltens zu nutzen. Sie beschreiben erstmals eine temperaturabhängige Kreuzhemmung zwischen gegensätzlichen sensorischen Neuronen, die durch Erwärmung und Abkühlung aktiviert werden und die Larve effizient zu ihrem homöostatischen thermischen Sollwert treiben und ihr helfen, dort zu bleiben. Dies unterscheidet sich deutlich von der weitverbreiteten Ansicht einer sogenannten „labeled line“, nach der die Thermoregulation durch zwei getrennte Mechanismen erreicht wird: erstens durch ein System, das Kälte erkennt – Rezeptoren und Nervenbahnen, die die Kältevermeidung steuern. Und zweitens durch ein System, das Wärme erkennt – Rezeptoren und Nervenbahnen, die dafür sorgen, dass das Tier Wärme meidet. „Stattdessen stellen wir fest, dass in der Larve beide Klassen von Wärmesensoren zusammenwirken und eine wichtige Rolle spielen, egal ob die Temperatur steigt oder fällt. Es gibt also kein unabhängiges Wärme- und Kältesystem, sondern nur ein verbundenes System“, berichtet Prof. Andreas Thum.
Mit der Studie wird damit erstmalig ein quantitatives Modell aufgestellt, wie das Zusammenspiel von Wärme- und Kältebahnen im Larvengehirn zu einer effizienten Thermoregulation führt. Anhand dieses theoretischen Rahmens können nun Vorhersagen darüber getroffen werden, wie sich die Larve als Reaktion auf unterschiedliche Heiz- oder Kühltemperaturen verhält. Diese können dann direkt in Experimenten getestet werden. In ähnlicher Weise konnten mit Hilfe der seriellen Elektronenmikroskopie die Schaltkreise zweiter Ordnung im Gehirn der Larve entschlüsseln. Diese Ergebnisse ermöglichen es nun den Wissenschaftler:innen zu verstehen, wie ein einfaches Gehirn thermosensorische Informationen verarbeitet, um Verhalten zu steuern.
„Indem wir viele Schaltkreise des Larvengehirns, das aus nur etwa 10.000 Neuronen besteht, erstmals mit Hilfe der 3D-Elektronenmikroskopie beschrieben haben, gewinnen wir derzeit ganz neue Einblicke in die Anatomie des Gehirns, die es uns ermöglichen, Teile davon trotz seiner Komplexität funktionell zu verstehen. Die spannende Frage für unsere Forschung wird nun sein, ob wir diese Mechanismen in ähnlicher Form auch in komplexeren Gehirnen finden können“, erklärt Prof. Andreas Thum.
Originaltitel der Publikat in "Science Advances":
"Synchronous and opponent thermosensors use flexible cross-inhibition to orchestrate thermal homeostasis." DOI: 10.1126/sciadv.abg6707
Prof. Dr. Andreas Stephan Thum
Institut für Biologie
Telefon: +49 341 97-36961
E-Mail: andreas.thum@uni-leipzig.de
https://advances.sciencemag.org/content/7/35/eabg6707?_ga=2.263892612.980723924....
Die Abbildung zeigt links eine Teilrekonstruktion des larvalen Gehirns, rechts ist ein lichtmikrosko ...
Prof. Dr. Andreas Thum
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Biology, Medicine, Zoology / agricultural and forest sciences
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
Die Abbildung zeigt links eine Teilrekonstruktion des larvalen Gehirns, rechts ist ein lichtmikrosko ...
Prof. Dr. Andreas Thum
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