Im Erwachsenenalter hat sich in uns eine Vorstellung davon etabliert, was es bedeutet in Beziehung zu anderen Menschen zu stehen. Dieses Modell zwischenmenschlicher Bindung beeinflusst z.B. die Qualität unserer Interaktion mit unseren Kindern, etwa beim gemeinsamen Spiel. Dabei ist noch recht unklar, wie sich die Gehirne von Eltern und Kind aufeinander abstimmen und wie der neuronale Gleichklang mit unseren Bindungserfahrungen zusammenhängt. Diese Frage hat Dr. Melanie Kungl von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zusammen mit Forschenden aus Berlin, Leipzig, Wien, Rom und Großbritannien untersucht und im Journal Developmental Science veröffentlicht.*
Wie wir persönlich mit Beziehungen und Bindung umgehen, wird sowohl von unseren eigenen Fürsorgeerfahrungen geprägt als auch von der Art, wie wir diese Erfahrungen verarbeiten. Grundsätzlich wird dabei zwischen sicher und unsicher gebundenen Personen unterschieden – je nachdem, welche Vorstellung jemand von Beziehungen hat und wie leicht bzw. schwer es jemandem fällt, Zugang zu damit verbundenen Emotionen zu erhalten und das Erlebte zu reflektieren. Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass diese sogenannten Bindungsrepräsentationen auf unsere sozialen Interaktionen Einfluss nehmen, unter anderem zwischen Eltern und Kindern. Bis dato gibt es jedoch kaum Studien, die die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse im Gehirn der jeweiligen Personen betrachten. Wichtig sind klare Erkenntnisse darüber deshalb, da die Interaktion zwischen Eltern und Kindern für deren sozio-emotionale Entwicklung von maßgeblicher Bedeutung ist: Die Art und Weise, wie auf Kinder reagiert wird, beeinflusst letztendlich, wie diese sich ihrer Umwelt gegenüber verhalten.
Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen der kooperierenden Institute, darunter Dr. Trinh Nguyen als Co-Erstautorin, wollte Dr. Melanie Kungl vom Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der FAU herausfinden, wie die Bindungsrepräsentationen von Eltern und Kindern damit zusammenhängen, wie deren Gehirne im Gleichklang sind, wenn sie miteinander interagieren. Hierfür konzentrierte sich die Forschungsgruppe neben Verhaltensbeobachtungen insbesondere auf die sogenannte neuronale Synchronie bei 140 Eltern-Kind-Paaren. Es handelt sich dabei um das synchrone Feuern von Neuronen in den Gehirnen der beiden, wenn sie sich gemeinsam mit einer Aufgabe beschäftigen und sich dafür aufeinander abstimmen. Neuere Studien zeigen, dass ein solcher Gleichklang eine wichtige Rolle in der Bindungsentwicklung zu spielen scheint.
Hand in Hand: Interviews und Spektroskopie
Um die dynamischen neuronalen Prozesse von Eltern-Kind-Interaktionen zu erfassen, hat das internationale Forschungsteam in seiner Studie traditionelle Methoden der Bindungsforschung mit innovativen Methoden der sozialen Neurowissenschaften vereint: Für die Analyse der Bindungsrepräsentationen bei Eltern und Kindern kamen Interviews zum Einsatz, welche nicht nur Einblicke erlauben, was eine Person berichtet, sondern auch wie sie das tut. „Wir betrachten diese Methode als eine Art Goldstandard zur Erfassung von Bindungsrepräsentationen,“ erklärt Dr. Melanie Kungl. „Im Gegensatz zu Fragebögen können hier bei Bedarf Nachfragen gestellt werden und das geschulte Auswertungspersonal weiß auch zwischen den Zeilen zu lesen und erkennt mentale Prozesse, die dem Gegenüber eventuell gar nicht so bewusst und damit ansonsten eher schwer erfassbar sind.“
Wie sehr sich Vater oder Mutter und ihr fünf- bzw. sechs-jähriges Kind im Verhalten einander anpassten, also synchron waren, beurteilten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anhand von Beobachtungen der beiden beim gemeinsamen Lösen eines Tangram-Puzzles. Zeitgleich erfassten sie mithilfe der funktionellen Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS), wie sehr sich deren Gehirne aufeinander abstimmten und sozusagen auf gleicher Wellenlänge waren. Bei einer fNIRS zeichnen auf einer Kappe angebrachte Sensoren auf, welche Gehirnregionen wie stark mit Sauerstoff versorgt werden – ein Hinweis darauf, wie aktiv die jeweiligen Regionen sind, wenn die Versuchspersonen kognitive oder motorische Aufgaben lösen. Dank der fNIRS ließ sich zunächst bestätigen, dass eine solche Zusammenarbeit zu erhöhter neuronaler Synchronie führt. Die Gehirnaktivitäten von Eltern und Kindern waren insbesondere in Bereichen des Gehirns in Einklang, die uns helfen, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen bzw. die für die Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstregulation verantwortlich sind.
Ist neuronaler Gleichklang wirklich immer ein positives Zeichen?
Auf Basis dieser Befunde gingen die Forschenden einen Schritt weiter, um Antworten auf ihre zentrale Frage zu finden: Welche Rolle spielt die Bindungsrepräsentation für die neuronale Synchronie von Elternteil und Kind? Es zeigte sich, dass zwar sowohl unsicher als auch sicher gebundene Personen ihr Verhalten beim Lösen der Aufgabe vergleichbar gut aufeinander abstimmten. Die Synchronie der Gehirnwellen unterschied sich jedoch abhängig von kindlichen und elterlichen Bindungsrepräsentationen. Überraschend war für die Wissenschaftler/-innen, dass sich gerade bei Paaren mit unsicher gebunden Müttern eine erhöhte Synchronie zeigte. „Unsere Ergebnisse lassen uns daher vermuten, dass hohe neuronale Synchronie nicht immer als positiv bewertet werden sollte,“ erklärt Dr. Melanie Kungl. „Frühere Studien legen nahe, dass es unsicher gebundenen Eltern eher schwerfällt, sich auf die Interaktion mit ihren Kindern einzulassen und dass solche Eltern-Kind Paare demnach weniger gut aufeinander abgestimmt sind. Darauf basierend deuten unsere Befunde an, dass stark ausgeprägte neuronale Synchronie bei Eltern-Kind-Paaren mit unsicher gebundenen Müttern in besonderem Maße nötig ist, um eine gelungene Interaktion zu führen. Man könnte also sagen, dass diese Paare sich mental mehr anstrengen müssen, um gut zu harmonieren. Dauerhaft könnte dies zu einer Überlastung führen, weswegen es wichtig ist, solche Mechanismen frühzeitig zu erkennen. Für uns stellt sich deshalb die Frage: Ist hohe Synchronie vielleicht gar nicht immer erstrebenswert und ein Mittelmaß sogar besser?“
Ihre Erkenntnisse schaffen neue Anknüpfungspunkte für weitere Studien. Da bisher nur die Interaktion im Zweierteam beobachtet wurde, ist die Zusammenarbeit von Mutter, Vater und Kind eine spannende Konstellation, um die Zusammenhänge im gesamten Familiensystem besser zu verstehen. Hieran knüpft Kungls Forschungspartner Prof. Pascal Vrticka in seinem Labor in Essex direkt an. Zudem analysieren die Forschenden gegenwärtig auch anhand weiterer bildgebender Verfahren, wie die elterlichen Bindungsrepräsentationen mit deren Gehirnaktivität und -struktur in Zusammenhang stehen.
* https://doi.org/10.1111/desc.13504
Dr. Melanie Kungl
Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
Tel.: 09131/85 20 911
melanie.kungl@fau.de
https://doi.org/10.1111/desc.13504
Criteria of this press release:
Journalists
Medicine, Psychology, Teaching / education
transregional, national
Research results
German
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