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07/14/2004 14:41

Devolution oder der britische Weg nach Europa

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Leipziger Anglist Prof. Dr. Joachim Schwend: Die Konzeption vom Europa der Regionen wird die Zukunft der Europäischen Union mit prägen

    Als 1997 New Labour die Regierung übernimmt, stehen die Zeichen für Europa auf Rot: das Vereinigte Königreich hat sich gegen den Beitritt zur Euro-Zone entschieden. Daran vermag auch Tony Blair nichts zu ändern. Aber mit seiner innenpolitischen Linie der Devolution hat der britische Premier einen Weg eingeschlagen, der auch die Zukunft der Europäischen Union prägen wird.

    Die Briten gelten als schwieriger Partner innerhalb der Europäischen Union. Seit sie 1973 - im Zuge der ersten Norderweiterung gemeinsam mit Dänemark und Irland - der Europäischen Gemeinschaft beitraten, gehen sie immer wieder ihre eigenen Wege. Aktuell gehören sie zu jenen bis zu zwölf Mitgliedern der EU, die per Referendum über die gemeinsame Verfassung entscheiden wollen. In dieser Staatengruppe gilt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland als ausschlaggebend. Votieren die Briten mit ''Ja'', dann dürfte sich auch in Ländern wie Dänemark, Tschechien, Irland oder Polen die Waage zugunsten des seit Juni 2004 vorliegenden Entwurfs neigen. Doch derzeit würden laut jüngsten Umfragen nur 23 Prozent der Briten für das neue EU-Regelwerk stimmen. Und bereits ein ablehnendes Referendum würde den gesamten Ratifizierungsprozess lähmen - ebenso wie die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza kann auch Europas erste Verfassung nur in Kraft treten, wenn alle 25 Mitgliedstaaten das neue Werk gebilligt haben.
    ''Man muss den Briten Zeit lassen'', sagt Prof. Dr. Joachim Schwend von der Universität Leipzig. ''Letztlich wissen sie, dass sie dabei sein müssen.'' Oder, wie es der britische Premier im Oktober vor der polnischen Börse in Warschau formulierte: ''In einer Zeit, da Europa stärker wird und sich erweitert, hätte es schon wahrhaft bizarre und selbstverleugnende Züge, wenn Großbritannien sich von der strategischen Schlüsselallianz vor unserer Haustür abseits hielte.'' Seit im Mai 1997 Tony Blair sein Amt antrat, verfolgt Prof. Joachim Schwend die Europapolitik des britischen Premiers - in jüngster Zeit bewegt sich der Anglist, dessen wissenschaftliche Studien unter dem Dach der ''British Cultural Studies'' von der Kultur und Literatur Schottlands bis zu Konsum und Konsumverhalten auf den Britischen Inseln reichen, vor allem im Spannungsfeld von Globalisierung und Regionalismus. ''Den Slogan vom 'Europa der Regionen', der in den 1980er Jahren politisch relevant wurde, hat Tony Blair in die Politik der Devolution umgesetzt.''
    Dahinter steht der ebenso einfache wie überzeugende Gedanke ''government closer to the people'': Entscheidungen werden dort getroffen, wo sie am effizientesten zu treffen sind und wo sie sich am unmittelbarsten auswirken. Dabei ist die Richtung klar: In vor Ort anstehende Aufgaben wie Landwirtschaft und Fischerei, Erziehung und Justiz redet London nicht mehr hinein; übergreifende Fragen wie Außenpolitik, Finanzen, Verteidigung oder Makroökonomie bleiben hingegen auf der nationalen Ebene verankert. ''Die britische Union wird dadurch gestärkt, dass mehr Rechte bei den Regionen liegen'', bilanziert Prof. Schwend den Prozess der Devolution - der Dezentralisierung bzw. der Übertragung von Rechten an regionale Verwaltungsstrukturen in Wales, Schottland und Nordirland.
    New Labour setzt damit eine bittere Lektion der britischen Geschichte in aktives politisches Handeln um: Schließlich wurzeln die Spannungen mit den Iren, die 1921 zur Spaltung Irlands und letztendlich zur Gründung der (auch aus dem Commonwealth ausgetretenen) Republik Irland und zum bis heute schwelenden Konflikt in Nordirland führten, in der steten Ignoranz der Zentrale gegenüber regionalen Belangen und Interessen. Für die Republik Irland bedeutete der Beitritt zur EG - 1972 gemeinsam mit Großbritannien - , nicht mehr am Katzentisch des ''Großen'' sitzen zu müssen. ''Als gleichberechtigter Partner zu agieren, das ist nicht zuletzt auch psychologisch wichtig.'' Auch die Schotten erhoffen sich eine Stärkung ihrer regionalen Position und Identität aus der Annäherung an die Europäische Union. ''Independence in Europa'' lautet das Stichwort, das zwei Prozesse miteinander verknüpft: zum einen den Macht- und Kompetenzverlust der Nationalstaaten durch den Auf- und Ausbau supranationaler Organisationen wie EU oder Nato unter dem Zeichen der Globalisierung; zum anderen den Aufgaben- und Verantwortungszuwachs für politisch, wirtschaftlich oder auch kulturell-geografisch definierte Regionen unter dem Zeichen der Regionalisierung. Heißt: Die Schotten suchen ihre politisch-geografische Position zwischen dem Vereinigten Köngreich als Nationalstaat und Europa als Ort der Regionen - eine Stellung, die aus Sicht von Prof. Schwend eine ''Alternative zur totalen Unabhängigkeit'' wäre, wie sie die Scottish National Party anstrebt. Eine vollständige Lösung Schottlands aus der britischen Union wäre schon ''wirtschaftlich illusorisch'', so der Leipziger Anglist. ''Ohne die Gelder aus London, allein mit Öl, Whisky und Hightech kann Schottland nicht existieren.''
    Was nun bedeutet dies für das Verhältnis zwischen Europäischer Union und Großbritannien? Der Unwillen, der sich zwischen Europa und Großbritannien breit gemacht hatte, stamme vor allem aus der Ära Margaret Thatcher, erläutert Prof. Schwend. Im Kern jedoch stünden die Briten auf Seiten Europas. Aber in einem Land, in dem die Verfassung keine geschriebene, keine kodifizierte ist, sondern in dem die Verfassung auf der gesetzgebenden Souveränität eines Parlamentes beruht, das über sieben Jahrhunderte hinweg nahezu ungebrochen den absoluten Souverän verkörpert - in einem solchen Land treffen Ansinnen wie die Ablösung der nationalen Währung durch den Euro oder die Einführung einer gemeinsamen europäischen Verfassung fast zwangsläufig eher auf Ablehnung denn auf Zustimmung.
    Aus dem Bewusstsein der politischen und geografischen Insel heraus sehen sich die Briten gemeinhin dem ''Moloch Europa'' gegenüber. ''Europa'', so Prof. Schwend, ''das ist die Angstvision 'European Superstate'''. Dagegen setzt Tony Blair auf die Integration Großbritanniens in ein ''Europa der Regionen''. Die Politik der Devolution, die bislang innenpolitische Stabilität gesichert hat, soll nun zum Meinungsumschwung in Fragen Europa beitragen. Nach der Einigung über den Verfassungsentwurf geht Tony Blair nun in die Offensive; als Mittel in diesem Ringen um Britanniens Zukunft in Europa hat er das Referendum gewählt. Der Premier setzt darauf, die Vorbereitung zur Abstimmung nutzen zu können, um die ''Realitäten der EU'' gegen die ''EU-Mythen'' seiner Gegner zu setzen - die zum Beispiel glauben machen wollen, die Briten müssten künftig auf britische Pässe verzichten, sich von Brüssel ihre Haushaltspläne diktieren lassen und bei Militäreinsätzen den Rest Europas um Erlaubnis fragen. ''Das 'Europa der Regionen' in diesem Kontext weiter zu verfolgen'', so Joachim Schwend, ''bedeutet einen evolutionären Prozess voranzutreiben.'' In diesem Prozess strebt Tony Blair jetzt einen gewaltigen Schritt an: ''Es ist an der Zeit zu entscheiden, ob das Land ein führender Partner und Verbündeter Europas ist oder am Rande stehen soll.''

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Prof. Dr. Joachim Schwend
    Telefon: 0341 97-37310
    E-Mail: schwend@uni-leipzig.de


    More information:

    http://www.uni-leipzig.de/~angl/index.htm


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    Criteria of this press release:
    Law, Politics
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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