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10/29/2025 09:15

Neandertaler-DNA enthüllt alte Wanderbewegungen

Theresa Bittermann Öffentlichkeitsarbeit
Universität Wien

    Neue Einblicke in die entscheidende Phase, in der die Neandertaler verschwanden und vom Homo sapiens abgelöst wurden

    In einer neuen Studie berichtet ein internationales Team unter der Leitung der Universität Wien über die Entdeckung und Extraktion alter DNA aus einem winzigen, 5 cm langen Neandertaler-Knochen. Der Knochen wurde auf der Krim-Halbinsel gefunden und gibt spannende Aufschlüsse über Fernwanderungen während des späten Pleistozäns vor 40.000 bis 50.000 Jahren. Der Neandertaler-Knochen wurde mit einer biomolekularen Methode gefunden, bei der anhand alter Proteine bestimmt wird, ob ein Knochen von einem Menschen oder einem Tier stammt. Die aus dem Knochen extrahierte alte DNA zeigte, dass er genetisch am nächsten mit Neandertalern aus der über 3.000 Kilometer entfernten Altai-Region in Sibirien verwandt war. Klimamodelle deuten darauf hin, dass Neandertaler-Gruppen wahrscheinlich während einer Zeit mit günstigen klimatischen Bedingungen über die weiten Steppen Eurasiens gewandert sind. Die Studie wurde aktuell in PNAS veröffentlicht.

    Eine Stätte mit langer Geschichte

    Die Felshöhle von Starosele auf der Krimhalbinsel wird seit 1952 erforscht. Bislang wurden dort nur menschliche Überreste aus der Zeit nach dem Mittelalter gefunden. Mithilfe neuer molekularer Methoden untersuchten Forscher*innen der Universität Wien nun jedoch mehr als 150 nicht identifizierte Knochenfragmente aus dieser Stätte. Unter diesen Fragmenten entdeckten sie ein kleines, 5 cm großes Fragment, das wahrscheinlich zu einem menschlichen Oberschenkelknochen gehörte.

    Mit neuen Techniken in die Vergangenheit blicken

    Die Wissenschafterin Emily M. Pigott, Doktorandin an der Universität Wien und Hauptautorin der Studie, wendete die paläoproteomische Methode "Zooarchäologie mittels Massenspektrometrie" (ZooMS) an, um die Arten von 150 fragmentierten Knochen zu bestimmen. Obwohl diese Knochen aufgrund ihrer geringen Größe morphologisch nicht identifiziert werden konnten, ist es durch die Extraktion der Kollagenpeptide und die Analyse ihrer Masse möglich, selbst winzige Fragmente auf Arten- oder Gattungsebene zu identifizieren. Von den 150 analysierten Knochen gehörten 93 % zu Pferden und Hirschen, während eine geringere Anzahl von Mammut- und Wolfsüberresten gefunden wurde – was darauf hindeutet, dass die Menschen der Altsteinzeit auf der Krim stark von der Pferdejagd abhängig waren. Ein besonders spannender Fund: ein kleines Fragment – nur 49,8 mm lang und 18,8 mm breit – das als menschlich identifiziert wurde.

    Ein Scan mittels Mikro-CT-Bildgebung zeigte, dass es sich wahrscheinlich um einen Oberschenkelknochen handelt. Anschließend wurde der Knochen mit Hilfe modernster Dekontaminationsmethoden radiokarbonisch datiert, wodurch er auf ein Alter zwischen 46.000 und 44.000 Jahren datiert wurde – und damit eindeutig in die Altsteinzeit fällt.

    "Das war eine äußerst spannende Entdeckung, zumal man bisher davon ausgegangen war, dass es sich bei den menschlichen Überresten in Starosele um einen modernen Menschen aus viel späteren Epochen handelte", so Pigott. "Als die Radiokarbondaten vorlagen, wussten wir, dass wir einen viel älteren Menschen aus der Altsteinzeit gefunden hatten - das war ein unvergesslicher Moment. In ganz Eurasien sind nur sehr wenige menschliche Fossilien aus dieser entscheidenden Zeit bekannt, in der die Neandertaler verschwanden und vom Homo sapiens abgelöst wurden, und noch weniger mit genetischen Informationen."

    Ein Einblick in die Mobilität der Neandertaler

    Die Entdeckung unterstreicht die Mobilität und Widerstandsfähigkeit der Neandertaler und zeigt, dass diese Menschenart weiter verbreitet waren, als bisher angenommen.

    Die Co-Autor*innen Konstantina Cheshmedzhieva und Martin Kuhlwilm von der Universität Wien leiteten die genetische Analyse und stellten fest, dass der menschliche Knochen zu einem Neandertaler gehörte, den das Team "Star 1" nannte. Überraschenderweise war dieses Individuum am engsten mit Neandertalern aus der sibirischen Altai-Region verwandt, die mehr als 3.000 Kilometer östlich liegt, aber auch mit Neandertalern, die einst in Regionen Europas wie Kroatien lebten. Die Ergebnisse bestätigen frühere Studien, die darauf hindeuten, dass sich Neandertaler in der späten Eiszeit über weite Strecken in Eurasien ausgebreitet haben, von Mitteleuropa im Westen bis nach Zentraleurasien. Diese Arbeit platziert die Krim-Halbinsel an einem Kreuzungspunkt dieses Migrationskorridors der Neandertaler.

    Mithilfe von Klima- und Lebensraummodellierungen identifizierten Elke Zeller (Universität von Arizona, USA) und Axel Timmermann (Pusan National University, Südkorea) zwei günstige Klimaperioden (vor 120.000 und 60.000 Jahren), in denen Neandertaler möglicherweise auf den Spuren wandernder Tierherden zwischen der Krim, Zentralasien und Europa gewandert sind.

    "Unsere Arbeit zeigt, dass durch die Kombination von Techniken wie ZooMS, Radiokarbondatierung und Analyse alter DNA selbst kleinste Knochenfragmente tiefgreifende Informationen über unsere evolutionäre Vergangenheit liefern können", fasst der Senior Autor Tom Higham von der Universität Wien zusammen. "Diese Art der multianalytischen Arbeit auf andere Sammlungen anzuwenden, wird uns helfen, weitere verborgene menschliche Überreste aufzudecken und die komplexe Geschichte der menschlichen Evolution in Eurasien besser zu erforschen. Unser Verständnis der Neandertaler hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Unsere neue Studie bestätigt, dass sie weite Strecken in verschiedenen Richtungen zurücklegen konnten, etwas, von dem wir jahrzehntelang dachten, dass es fast ausschließlich unserer Spezies vorbehalten sei."

    Zusammenfassung:

    • Bei der Untersuchung von mehr als 150 nicht identifizierten Knochenfragmenten aus dem Felsunterstand Starosele auf der Krimhalbinsel wurde ein kleines 5 cm großes Fragment als Teil eines Neandertaler-Knochens identifiziert – vom Team "Star 1" genannt.
    • Das Fragment wurde mittels Mikro-CT-Bildgebung gescannt, wodurch sich herausstellte, dass es wahrscheinlich von einem menschlichen Oberschenkelknochen stammte. Es wurde außerdem mit den modernsten Dekontaminationsmethoden radiokarbonisch datiert, wodurch der Knochen auf ein Alter zwischen 46.000 und 44.000 Jahren datiert wurde, also eindeutig in die Altsteinzeit fällt.
    • Weitere Untersuchungen ergaben, dass das Individuum am engsten mit Neandertalern aus der sibirischen Altai-Region, mehr als 3.000 Kilometer östlich, verwandt war, aber auch mit Neandertalern, die einst in Regionen Europas wie Kroatien lebten.
    • Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Neandertaler während des späten Pleistozäns über weite Teile Eurasiens ausgebreitet haben müssen, vom westlichen Mitteleuropa bis hin zum zentralen Eurasien, wobei die Krim an der Schnittstelle dieser Route lag.
    • Mithilfe von Klimamodellen konnten die Wissenschafter*innen ermitteln, wann Menschen aufgrund günstiger klimatischer Bedingungen am ehesten wanderten. Sie fanden heraus, dass die sogenannte "Zwischeneiszeit" vor etwa 120.000 Jahren eine dieser Perioden war, eine weitere vor etwa 60.000 Jahren.

    Über die Studie:

    Die Wissenschafter*innen verwendeten Massenspektrometrie (ZooMS), um verschiedene Arten unter den fragmentierten Knochen zu identifizieren. Das als menschlich identifizierte Fragment wurde mittels Mikro-CT-Bildgebung gescannt, radiokarbonisch datiert und genetisch analysiert, woraufhin sich herausstellte, dass es zu einem späten Neandertaler gehörte. Klimamodelle identifizierten Schlüsselperioden, in denen Menschen höchstwahrscheinlich günstige Klimabedingungen nutzten, um sich fortzubewegen.

    Über die Universität Wien:

    Die Universität Wien setzt seit über 650 Jahren Maßstäbe in Bildung, Forschung und Innovation. Heute ist sie unter den Top 100 und damit den Top 4 Prozent aller Universitäten weltweit gerankt sowie in aller Welt vernetzt.
    Mit über 180 Studien und mehr als 10.000 Mitarbeitenden ist sie einer der größten Wissenschaftsstandorte Europas. Hier treffen Menschen aus unterschiedlichsten Disziplinen zusammen, um Spitzenforschung zu betreiben und Lösungen für aktuelle und künftige Herausforderungen zu finden. Ihre Studierenden und Absolvent*innen gehen mit Innovationsgeist und Neugierde komplexe Herausforderungen mit reflektierten und nachhaltigen Lösungen an.

    Zur Förderung:

    Diese Forschung wurde von der Europäischen Union finanziert (ERC-Fördernummer 101142352 "DISPERSE", vergeben an TH). Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die der Autor*innen und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union wider. Weder die Europäische Union noch die Förderbehörde können dafür verantwortlich gemacht werden. Der Wissenschafts- und Technologiefonds Wien (WWTF) [10.47379/VRG20001] unterstützte Prof. Kuhlwilm zusammen mit dem Life Science Compute Cluster (LiSC) der Universität Wien. Das IBS Center for Climate Physics (IBS-R028-D1) unterstützte Prof. Timmermann.

    Die Wiener Autor*innen werden vom HEAS Forschungsverbund (Human Evolution and Archaeological Sciences, https://www.heas.at/) unterstützt, dessen Direktor Prof. Higham ist, und sind Teil dieses Verbunds.


    Contact for scientific information:

    PhD Studentin Emily. M. Pigott
    Department für Evolutionäre Anthropologie
    Fakultät für Lebenswissenschaften, Universität Wien
    1030 Wien, Djerassiplatz 1
    M +43-676-5778615
    emily.pigott@univie.ac.at
    www.univie.ac.at

    Professor Tom Higham
    Department für Evolutionäre Anthropologie
    Fakultät für Lebenswissenschaften, Universität Wien
    1030 Wien, Djerassiplatz 1
    T +43-1-4277-54740
    M +43-664-8176697
    thomas.higham@univie.ac.at
    https://highamlab.univie.ac.at/


    Original publication:

    Emily Pigott, Konstantina Cheshmedzhieva, Elke Zeller, Laura G. van der Sluis, Manasij Pal Chowdhury, Maddalena Gianni, Emese Végh, Thorsten Uthmeier, Victor Chabai, Marylène Patou-Mathis, Petra G. Šimková, Jana N. Voglmayr, Gerhard W. Weber, Ron Pinhasi, Axel Timmermann, Martin Kuhlwilm, Katerina Douka and Thomas Higham: A new late Neanderthal from Crimea reveals long-distance connections across Eurasia. 2025. In PNAS.
    DOI: 10.1073/pnas.2518974122
    https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2518974122


    More information:

    https://www.univie.ac.at/aktuelles/press-room/pressemeldungen/detail/neandertale...


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    Emily M. Pigott und Maddalena Gianni bei der Vorbehandlung von Radiokarbonproben im Higham-Labor der Universität Wien.
    Emily M. Pigott und Maddalena Gianni bei der Vorbehandlung von Radiokarbonproben im Higham-Labor der ...

    Copyright: Prof. Tom Higham


    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars
    History / archaeology
    transregional, national
    Research results, Transfer of Science or Research
    German


     

    Emily M. Pigott und Maddalena Gianni bei der Vorbehandlung von Radiokarbonproben im Higham-Labor der Universität Wien.


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