idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
12/16/2004 16:22

Warum die Türkei zu Europa gehört

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Die Debatten um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sind in vollem Gange. Den Streit um Kopftuch und Minarett bezeichnet der Leipziger Soziologie-Professor Georg Vobruba als "Geisterdebatte". Nach seiner Auffassung hat sich die EU immer in konzentrischen Kreisen ausgedehnt. Dies belegt er in seinem neuen Buch "Theorie der Dynamik Europas", das zur Leipziger Buchmesse im März 2005 erscheinen wird. Seine Prognose: Die Türkei wird in 12 Jahren Mitglied der Europäischen Union werden.

    Der Ursprung von Vobrubas Idee liegt in Princeton. Ende der 1990er wurde er zu einer Konferenz über "50 Jahre Demokratie in Deutschland" eingeladen, um über die Einordnung Deutschlands in die Europäische Union zu sprechen. Schließlich fasste er seine Gedanken im Bild "The European Onion" - einer Zwiebel gleich umgab sich der jeweilige Kern der Union mit immer neuen schützenden Hüllen. Übersetzt in die politische Entwicklung der Europäische Gemeinschaft bedeutet dies: Zwar strahlt eines der peripheren Länder mit seinen Problemen in den Kern hinein, es festigt sich jedoch als Vorleistung und als Effekt einer Annäherung an das politisch anziehende und ökonomisch stabile Zentrum. In seiner Wirkung als Pufferzone kann das Nachbarland nun selbst vom Kern integriert werden und zum vollwertigen Mitglied aufrücken. "Nach diesem Muster", erläutert Prof. Georg Vobruba, "sind bislang alle Erweiterungsrunden der Europäischen Union gelaufen." Es ist der spezifische Weg Europas, den Risiken von politischen Instabilitäten und Wohlfahrtsgefällen die Spitze zu brechen.

    Doch mit der Osterweiterung ist die Europäische Union auf 25 Staaten angewachsen. Das Muster stößt offensichtlich an seine Grenzen: Im Äußeren ist Europa über kurz oder lang schlichtweg erschöpft. Bereits anhand der Konstellation Polen/Ukraine wird das erkennbar: "Plötzlich" ist ein Staat, der aktuell um seine politische Zukunft ringt, zum Nachbarn der EU aufgerückt - ohne dass die Union ein außenpolitisches Konzept vorweisen könnte. Und im Inneren leidet die Fähigkeit, Differenzen zu verarbeiten. Während Institutionen wie Gemeinsame Kommission, Ministerrat und Parlament, die 1957 für sechs Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen worden waren, für neun (1973) handhabbar und für 15 (1981/1986 sowie 1995) noch praktikabel blieben, stoßen diese Institutionen inzwischen an die Grenzen ihrer kommunikativen und administrativen Funktionalität.

    Die Antwort, die die Europäische Union mit Blick auf die doppelte Begrenzung und auf die Geografie des Kontinents gibt, heißt "Ring of Friends". Dieser gilt für die Länder im Osten und Süden der heutigen EU. "Im Prinzip ist dies die Fortsetzung der Ausdehnung in konzentrischen Kreisen. Aber", betont Prof. Vobruba, "die Dynamik Europas setzt sich zwar fort, mündet jedoch nicht mehr in Vollmitgliedschaften und EU-Erweiterungen." Der Mechanismus, die Übernahme der Pufferfunktion mit der Perspektive der Zugehörigkeit zum europäischen Bund zu verknüpfen, lässt sich nicht weiter fortsetzen. "Genau dies macht den Kern der gegenwärtigen Probleme der EU aus."

    Ein Land allerdings ist explizit vom "Ring of Friends", der Strategie der neuen Nachbarschaft, ausgenommen. Prof. Georg Vobruba: "Für die Türkei ist mehr vorgesehen." Das Land verfügt über eine extrem relevante Position an der Peripherie. Staaten mit vergleichbarer geographischer und politischer Lage sind bislang über das Muster der konzentrischen Ausdehnung in die EU integriert worden. Doch im Unterschied zu diesen lässt die Türkei Integrationsprobleme unbekannter Größenordnung erwarten. Im Besonderen werden kulturelle Differenzen und ökonomische Ungleichheiten diskutiert.

    An diesem, im wissenschaftlichen Sinne "hysterischen Diskurs" - das heißt im Sinne einer sich über lange Zeit erstreckenden diskursiven Wirkung, obwohl deren Ursache weggefallen ist - beteiligt sich Prof. Vobruba nicht. Die Furcht vor dem "Osmanensturm" auf Europa, markiert durch die zweite türkische Belagerung Wiens anno 1683, hat sich als "Orient-Hysterie tief im europäischen Gedächtnis eingebrannt", konstatiert der Leipziger Soziologe. "Im übrigen", fügt er hintersinnig an, "wurde Österreichs Hauptstadt von einem Heer unter Befehl des polnischen Königs Johann Sobieski entsetzt..." Die Debatten jedenfalls, die aus den kulturellen und religiösen Besonderheiten sowie aus Kosten-Nutzen-Kalkülen erwachsen, werden der Logik der Politik der EU-Erweiterung nicht gerecht. Aus dieser Perspektive geht es nicht um Integration trotz, sondern wegen der Unterschiede zwischen der EU und der Türkei. "Für die Fortdauer des Musters konzentrischer Kreise spricht die hohe machtpolitische Relevanz der Puffer- und Brückenfunktion der Türkei", so Prof. Vobruba. Zugleich jedoch werden die ökonomischen Konsequenzen eines Beitritts der Türkei zur EU die Gemeinschaft an den Rand der Überforderung bringen. In der Konsequenz bedeutet dies, die Integration der EU wendet sich von außen ins Innere - das Muster der konzentrischen Kreise spiegelt sich nun in unterschiedlich tief integrierten Teilen der EU wider.

    Im Ergebnis einer solchen "Integration trotz Differenz" wird die Türkei in mittlerer Zukunft Mitglied der Europäischen Union sein. Aber die Vollmitgliedschaft wird auf abgesenkten Konditionen und Sonderregelungen beruhen. "Deshalb", so Prof. Georg Vorbruba, "werden die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU tatsächlich Verhandlungen sein." Zwischen Kern und Peripherie muss die Graduierung, das Niveau der Integration grundsätzlich errungen und vereinbart werden. Die abgestufte Integration - das neue Muster europäischer Entwicklung - ist auf seine Art Neuland für beide Seiten, für Brüssel und für Ankara.

    Georg Vobruba: Die Dynamik Europas. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. 17,90 Euro. (voraussichtlicher Erscheinungstermin: 15. März 2005)

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Prof. Dr. Georg Vobruba
    Telefon: 0341 97-35641
    E-Mail: vobruba@sozio.uni-leipzig.de
    www.uni-leipzig.de/~sozio


    Images

    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).