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05/08/2001 08:16

"Individuation und soziale Identität bei türkischen Jugendlichen in Berlin"

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Abschlußbericht des von der VW-Stiftung geförderten Projekts liegt vor

    Wie sehen die Kinder türkischer Migranten in Berlin ihre eigene Zukunft im Spannungsfeld von Mehrheit und Minderheit? Welche Optionen entwickeln sie und auf welche Ressourcen greifen sie zurück? Diesen Fragen ging ein Forschungsprojekt im Arbeitsbereich Empirische Erziehungswissenschaft am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin nach. In dem von der VW-Stiftung für zwei Jahre geförderten Projekt haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Hans Merkens bezüglich der eigenen Zukunftsplanung der Jugendlichen versucht, vier verschiedene Möglichkeiten der Entscheidung zu differenzieren: Assimilation (Jugendliche passen sich an die deutsche Gesellschaft an), Segregation (Jugendliche entscheiden sich für eine türkische soziale Identität), Integration (Jugendliche entscheiden sich für ein 'sowohl als auch' zwischen Mehrheit und Minderheit) oder Diffusion (Jugendliche fällen in keine Richtung eine Entscheidung). Den Abschlußbericht ihrer Untersuchungen hat die Forschungsgruppe nun vorgelegt.
    Jeder zweite türkische Jugendliche wünscht sich eine doppelte Staatsbürgerschaft. Der Großteil der Jugendlichen strebt das Abitur oder zumindest die Mittlere Reife als Schulabschluß an.

    Die Untersuchung ist an allen Schulformen der Sekundarstufe I durchgeführt worden. Es hat zwei aufeinanderfolgende Erhebungen im Verlauf eines Jahres gegeben. An der ersten Erhebung haben 293 türkische Jugendliche, an der zweiten 312 teilgenommen. An beiden Erhebungen haben 191 türkische Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren teilgenommen, die zum ersten Messzeitpunkt die 8. Klasse besucht haben. Es wurden nur solche Klassen in die Untersuchung einbezogen, in denen mindestens fünf türkische und mindestens fünf deutsche Jugendliche vorhanden waren. Nur wenn eine gewisse Mindestsumme bei der eigenen sowie bei der jeweils anderen ethnischen Identität gegeben ist, macht es Sinn, die beabsichtigten Aspekte zu untersuchen. Es haben sich in Bezug auf die Frage der Zuordnung zur deutschen Mehrheitsgesellschaft oder zur ethnischen Eigengruppe Resultate ergeben, die auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich erscheinen, auf jeden Fall aber Meinungen, die heute von Politikern geäußert werden, nicht immer entsprechen.

    Im Kontext der Zukunftsperspektiven haben sich die Wissenschaftler/innen zunächst für die angestrebte Staatsbürgerschaft interessiert:
    1. Etwas mehr als 50% der Befragten plädieren bei der Staatsbürgerschaft für ein integratives Modell, indem sie beide Staatsbürgerschaften wünschen.
    2. Nur jeder sechste Befragte wünscht nur die türkische Staatsbürgerschaft, setzt also bewußt auf Segregation.
    3. Ebenfalls nur jeder sechste Befragte wünscht alleine die deutsche Staatsbürgerschaft, setzt demnach auf Assimilation in diesem Bereich.
    4. Ebenfalls etwa jeder sechste Befragte macht hierzu keine Angaben, nennt eine andere Staatsbürgerschaft oder kreuzt an, dass es egal sei - entscheidet sich also in keine der Richtungen.
    5. Zweidrittel der Befragten verfügen über einen türkischen, knapp ein Drittel über einen deutschen Pass. Wenige Jugendliche haben beide Pässe. Das heißt, in diesem Bereich dominiert die Segregation. Das ist von Interesse, weil die Mehrheit der Befragten für sich ein integratives Modell bevorzugt.

    Zweitens wurde bezüglich der Zukunftsperspektiven nach dem gewünschten Bildungsabschluß gefragt. Der weitaus überwiegende Anteil der befragten Schülerinnen und Schüler strebt das Abitur oder wenigstens die Mittlere Reife an. Im Bereich der Bildung haben sich die türkischen Jugendlichen demnach assimiliert. Auch für ihre Eltern berichten die Jugendlichen hohe Bildungsaspirationen. Man kann also davon ausgehen, dass bei den Bildungsaspirationen sowohl die befragten türkischen Jugendlichen als auch deren Eltern voll auf Assimilation setzen.

    Zur sozialen Identität der türkischen Jugendlichen: Eine deutsche Identität wird weitgehend abgelehnt, der bikulturellen Identität nur unterdurchschnittlich zugestimmt. Die türkische Identität wird eindeutig bevorzugt. Dies gilt unabhängig von Staatsbürgerschaft und besuchter Schulform. Türken werden bei primären wie sekundären Tugenden sehr hoch eingeschätzt, Deutsche dahingegen schlechter. Demnach zeichnet sich bei der gewünschten eigenen sozialen Identität eine eindeutige Tendenz zur Segregation ab. Im Unterschied dazu schreiben sich die Jugendlichen bessere Kenntnisse in der deutschen als der türkischen Sprache zu. Wenn sie sich Sprachdefizite attestieren, dann eher im Türkischen als im Deutschen, wo in der Regel weit überdurchschnittliche Kenntnisse angegeben werden. Im sprachlichen Bereich haben die Jugendlichen ihrer eigenen Wahrnehmung nach erhebliche Vorleistungen in Richtung Assimilation bzw. Integration erbracht. Das ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte über das Erfordernis von Sprachkursen für türkische Mütter ein interessanter Befund.

    Eine der zentralen Annahmen, die bezüglich der Auswahl oder Ablehnung deutscher Jugendlicher in Bezug auf Klasse, Familie oder Freizeit formuliert worden war, war, dass ethnische Kategorisierungen ein entscheidender Faktor sein würden. Es war zusätzlich davon ausgegangen worden, dass diejenigen Jugendlichen, die über viele deutsche Freundinnen und Freunde verfügten, eine Tendenz zeigen würden, sich mehr in Richtung Integration oder Assimilation zu bewegen. Diese Annahmen haben sich in dieser Form nicht bestätigen lassen. In den untersuchten Klassen war bei den deutschen Jugendlichen die Ausländerfeindlichkeit nicht sehr groß. Es konnten keine Hinweise darauf gefunden werden, dass türkische Jugendliche bei ihren Entscheidungen im Spannungsfeld von Assimilation und Segregation durch deutsche Jugendliche und deren Einstellungen in diesem Bereich beeinflußt werden. Für die Gruppeneinteilung wurde folgendermaßen vorgegangen: Diejenigen Jugendlichen, die nur deutsche Freunde nannten, wurden als assimiliert, diejenigen, die nur türkische Freunde hatten, als segregiert und diejenigen, die sowohl deutsche als auch türkische Freunde nannten, als integriert bezeichnet. Dabei wurde festgestellt, dass ein großer Teil derjenigen, die unter segregiert geführt wurden, den Wunsch hatten, in der Klasse neben deutschen Jugendlichen zu sitzen oder diese zu sich nach Hause einzuladen. Diese Gruppe wurde mit Möchtegern-Integriert bezeichnet. Für diese verschiedenen Gruppen lassen sich im Längsschnitt folgende Aussagen formulieren:
    - die zuletzt genannte Gruppe ist im Längsschnitt in ihrem Umfang die stabilste,
    - bei der Gruppe der Assimilierten gibt es eine leichte Abnahme,
    - bei der Gruppe der Integrierten eine stärkere Abnahme und
    - bei den Segregierten eine erhebliche Zunahme.

    Will man die Ergebnisse für die türkischen Jugendlichen zusammenfassend auf einen Nenner bringen, gibt es drei vielleicht überraschende Befunde:
    - Der erste lautet, dass eine starke ethnische Orientierung in Richtung auf die Eigengruppe offensichtlich kein Hinderungsgrund dafür ist, sich in vielen Bereichen für eine Assimilation an das Deutsche bzw. eine Integration in die deutsche Gesellschaft zu öffnen. Dabei entwickeln die Jugendlichen eine soziale Identität, die man am besten mit sektoral bezeichnen kann, und bei der einer der Sektoren dem Türkischen und dem Stolz, Türke zu sein, vorbehalten bleibt. Die soziale Integration in die deutsche Gesellschaft wird also zumindest während der Schulzeit bewältigt und mit der emotionalen Assimilation an das Türkische zu vereinbaren versucht. Dem korrespondiert, dass die strukturelle Assimilation mindestens ansatzweise gelingt. Es wurden türkische Jugendliche von allen vier Schulformen der Sekundarstufe I befragt.
    - Das zweite Ergebnis ist, dass zumindest dann, wenn es jeweils eine hinreichende Anzahl Jugendlicher aus der eigenen ethnischen Gruppe und einer anderen ethnischen Gruppe gibt, eher persönliche Merkmale bei Freundschaftsbeziehungen über Wahl oder Ablehnung entscheiden als ethnische Kategorisierungen.
    - Drittens scheint die Schule auf der Sekundarstufe I in der von uns untersuchten Altersgruppe keinen Beitrag für eine Verbesserung der sozialen Integration türkischer Jugendlicher zu leisten.

    Literatur:
    Hans Merkens / Folker Schmidt (Hgg.), Individuation und soziale Identität bei türkischen Jugendlichen in Berlin. Abschlußbericht eines von der Volkswagenstiftung geförderten Projekts (Az.: II/74593), hg. in der Reihe "Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgemeine Pädagogik - Abt. Empirische Erziehungswissenschaft - der Freien Universität Berlin, Bd. 34, Berlin 2001, ISSN: 430-9920

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
    Prof. Dr. Hans Merkens, Arbeitsbereich Empirische Erziehungswissenschaft der Freien Universität Berlin, Fabeckstr. 13, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-55224, E-Mail: merken@zedat.fu-berlin.de

    Eine ausführliche Fassung dieser Pressemitteilung finden Sie im Internet unter dem Stichwort "Pressedienst Wissenschaft 2001".


    More information:

    http://www.fu-berlin.de/presse/fup


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    Criteria of this press release:
    Psychology, Social studies, Teaching / education
    transregional, national
    Research projects, Research results
    German


     

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