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Wissenschaft
Knabenchöre gehören zu den Glanzstücken der Musikkultur. Doch gerade in jüngster Zeit tauchten Vorwürfe auf, die glänzenden Erfolge seien oft mit pädagogisch fragwürdigen Methoden erkauft worden. Von Missbrauch und Misshandlungen war die Rede. Prof. Dr. Max Liedtke, Emeritus am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft I der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), und Dr. Horant Schulz, Rektor a.D. der Volksschule Adelsdorf, haben diese keineswegs neuen Vorwürfe am Beispiel des Windsbacher Knabenchores aufgegriffen und in umfassenden Untersuchungen alle noch erreichbaren ehemaligen Sänger nach deren Erfahrungen und Einschätzungen befragt.
Hauptziel der Untersuchung war es herauszufinden, was es nach Meinung der ehemaligen Choristen in der Summe für ihr Leben gebracht habe, im Chor mitgesungen zu haben.
Der Windsbacher Knabenchor, 1946 gegründet, ist eine Einrichtung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Seit Jahrzehnten zählt er zu den besten Knabenchören im deutschsprachigen Raum. Wie solche Erfolge erzielt werden können und welcher Bildungswert dauerhaft mit der intensiven Chorarbeit verbunden ist, das ist die zentrale Fragestellung der Untersuchung von Max Liedtke und Horant Schulz. Ihre Arbeit beruht auf mehreren quantitativen wie qualitativen Untersuchungen aus der Zeit zwischen 1990 und 2010 und stützt sich dabei auf Befragungen von ca. 400 ehemaligen Windsbacher Choristen der Abschlussjahrgänge 1947 bis 2010. Diese Befragungen bezogen sich nicht nur auf den Chor, sondern auch auf das Internat, in dem die Mehrzahl der Choristen untergebracht ist, sowie auf die Schulen, in denen sie unterrichtet wurden.
Das Resümee der Forscher: Es habe problematische Formen von Erziehung gegeben. Bis in die 1970er-Jahre gab es, wie in der gesamten christlich-europäischen Tradition, körperliche Züchtigungen, die aus heutiger Sicht als Misshandlungen gelten. Kritik an diesen Praktiken sei berechtigt und erforderlich. Die weit überwiegende Mehrheit der ehemaligen Choristen berichte von ungeheuren Gewinnen, die sie aus den Chorerfahrungen geschöpft habe – Gewinne, die auf anderen Wegen kaum zu erlangen gewesen seien. So könne Musik über die Chorerfahrungen geradezu auch „ein Schlüssel zum Leben“ werden, wie es einer der Befragten zugespitzt formuliert. Obwohl der Windsbacher Chor im Mittelpunkt der Untersuchung steht, lassen sich zentrale Ergebnisse auch auf andere Knabenchöre übertragen, sagen die Autoren der Studie.
Die Ergebnisse im Einzelnen
Die Misshandlungs- bzw. Missbrauchsdiskussion
Auf der Grundlage ihres Datenmaterials haben die Wissenschaftler zunächst untersucht, ob die Missbrauchsvorwürfe berechtigt erscheinen. „Wir haben sehr genau auf mögliche Negativa geachtet und den von den ehemaligen Choristen benannten Negativa und Problemen großen und zwar überrepräsentativ großen Raum gegeben, um nicht Gefahr zu laufen, irgendeinen kritischen Einwurf, eine kritische Anmerkung, ein kritisches Datum zu übergehen“, erklärt Professor Liedtke. Die Forscher kommen zu folgenden Ergebnissen:
Soweit sich die Missbrauchsdiskussion auch auf körperliche Züchtigungen bezog, stehe außer Zweifel, dass auch Windsbach betroffen war. „Bis in die 70er-Jahre konnte noch strittig sein, ob körperliche Züchtigungen, soweit sie nicht zu Körperverletzungen führten, legale Erziehungsmittel waren. Körperliche Züchtigungen waren in der gesamten christlichen Tradition nicht nur erlaubte, sondern auch empfohlene Erziehungsmittel“, erklärt Max Liedtke. Schon deswegen müsse man davon ausgehen, dass es auch in Windsbach ernsthafte psychische und physische Verletzungen gegeben hat. Dies bedeute, dass Kritik berechtigt und notwendig war. „In unserer Untersuchung wird diese Kritik an vielen Stellen deutlich. Dieser Zeitraum ist dennoch keine Zeit systematischer gewalttätiger Erziehung und Unterdrückung gewesen. Dagegen spricht die große Mehrheit der Zeitzeugnisse. Es gibt eine große Zahl hochpositiver Chor- und Internatserinnerungen eben aus dieser Zeit“, sagt der Erziehungswissenschaftler.
Mit der veränderten Rechtslage und dem sich verändernden pädagogischen Bewusstsein in den 1970er-Jahren habe sich die Situation in Windsbach geändert. Es gebe keine Hinweise, dass nach dieser Zeit durch die Internats- oder durch die Chorleitung körperliche Züchtigung ausgeübt oder toleriert worden sei. Das schließe jedoch nicht aus, dass einzelne Erzieher auch in späteren Jahren gelegentlich Gewalt gegen Schüler anwendeten. Es gab Vorwürfe wegen angsteinflößender erzieherischer Verhaltensformen, zum Beispiel wegen eines gelegentlich lautstarken und harschen Probenstils. Gleichwohl gelte, so die Forscher, dass sich seit 1978 alle Umfragewerte deutlich verbesserten. In den letzten Jahren habe es auch keine Klagen mehr über den Probestil gegeben.
Pädophile Vorfälle, wie sie – Jahre verschwiegen oder auch toleriert – aus anderen Internaten bekannt geworden sind, habe es in Windsbach nicht gegeben, sagen die Forscher. Ein Vorfall aus dem Jahre 1954 sowie einer aus dem Jahre 2001 seien unmittelbar nach Bekanntwerden durch die Internatsleitung angezeigt und gerichtlich verfolgt worden.
Bildungserfahrungen der Chorsänger
Trotz aller Negativa überwiegen laut Liedtke und Schulz die positiven Stimmen verbunden mit einer Vielzahl mitunter sehr abwägender Kommentare. Bei der Untersuchung der Abschlussjahrgänge 1947 bis 1996 zogen 87,4 Prozent der Choristen ein positives Resümee über ihre Windsbacher Bildungserfahrungen, 5,9 Prozent urteilten negativ, 6,7 Prozent ließen die Frage offen. Bei den Choristen der Abschlussjahrgänge 1997 bis 2010 gaben 87,8 Prozent an, noch nie ernsthaft bereut zu haben, Mitglied des Windsbacher Knabenchors gewesen zu sein, 8,7 Prozent bejahten die Frage, 4,3 Prozent beantworteten die Frage nicht.
Für einen der bedeutendsten Gewinne aus der Mitwirkung im (Knaben-)Chor halten die beiden Forscher die Fülle an Erfolgserlebnissen. „Die Choristen haben in ihrer Laufbahn Hunderte Konzerte erlebt, in der Regel stürmisch vom Publikum gefeiert. Dass ihnen die Konzerte vielfach großartige, erfüllende, stolzmachende Erlebnisse, Erfolge vermittelt hätten, bestätigen die ehemaligen Choristen aller Generationen“, sagt Liedtke. Besonders deutlich sei auch der musikalische Gewinn, den die Windsbacher aus ihrer Chorzeit ziehen: Ihnen wird hohes sängerisches Können vermittelt; sie erlernen eine Fülle an Melodien, Texten und erwerben so ein nahezu lebenslang verfügbares Kultur- und Lebensgut.
Gewichtig seien die elementaren Nebeneffekte der intensiven Chorarbeit: Verhaltensformen, ohne die in keinem Lebensbereich hohe Leistungen erbracht werden können wie Ausdauer, Teamfähigkeit sowie die Fähigkeit, mit Leistungsdruck umzugehen. Das hohe Anspruchsniveau, das die Choristen im Knabenchor kennen gelernt haben, werde schließlich auch auf andere Lebensbereiche übertragen, insbesondere im künstlerischen und beruflichen Bereich. Außerdem gebe es einen zusätzlichen sozialen Gewinn aus der Mitgliedschaft im Knabenchor. Die langjährige gemeinsame Chorarbeit führe zu dauerhafteren und intensiveren Freundschaften, als sie aus „Normalschulen“ geläufig sind.
Schließlich haben die Choristen aber auch erfahren, in welchem Umfang sie Einfluss auf ihre Hörerschaft ausüben können: Ergriffenheit, Freude, Trost. Ihnen sei außerdem bewusst, dass sie durch ihre Chorarbeit auf höchstem künstlerischen Niveau einen Beitrag zum kulturellen Leben der Gesamtgesellschaft geleistet haben.
Die Autoren
Max Liedtke, Professor für Allgemeine Pädagogik und emeritierter Lehrstuhlinhaber an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat unter anderem Musikwissenschaft studiert und seit den 1980er-Jahren einige Arbeiten über den Windsbacher Knabenchor initiiert, betreut und geschrieben.
Horant Schulz, Erlangen, Rektor a. D., war Sopransolist bei den Regensburger Domspatzen und hat über den Windsbacher Knabenchor promoviert.
Die Untersuchungsergebnisse der beiden Wissenschaftler sind als Buch erschienen:
Max Liedtke / Horant Schulz: Knabenchor – Last, Glück, Lebenschance? Eine Untersuchung am Beispiel des Windsbacher Knabenchors, Wißner-Verlag, Augsburg 2012.
Mehr Informationen:
Pressestelle der FAU
Tel.: 09131/85-70210
presse@zuv.uni-erlangen.de
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Cultural sciences, Music / theatre, Religion, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results
German
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