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Wissenschaft
1300 Namen haben Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich vom Institut für Slawistik der Universität Leipzig ausgegraben. Es sind die Namen von 1300 Orten, die zwischen Wismarer Bucht und mittlerer Peene lagen und liegen. Als beginnend mit dem 10. Jahrhundert deutsches Recht und hernach auch deutsche Herrscher in das Gebiet vordrangen, veränderte sich die slawische Gesellschaft. Ein Wandel, der sich am Wandel der Ortsnamen ablesen lässt. Aus der philologischen Studie "Vergleichende Untersuchungen zur Widerspiegelung der früh- und hochmittelalterlichen Siedlungsentwicklung im Namenschatz des ehemaligen Fürstentums Mecklenburg" soll im nächsten Jahr ein Buch werden.
Ein Name, als Beispiel: Dörgelin. Dörgelin? Dörgelin liegt bei Dargun, am nördlichen Rand der Mecklenburgischen Schweiz. Das nächst kleinere Städtchen ist Demmin. Bis Rostock sind es knapp 60, bis Greifswald etwa 40 Kilometer. Zwei Straßen binden das Dorf an die Welt - eine führt zur Bundesstraße, die andere kommt von der Bundesstraße. Klingt nach Abgeschiedenheit, wahlweise als Idylle oder Einöde zu verstehen. Zur wissenschaftlichen Fundgrube eignet sich Dörgelin weniger. So scheint es zumindest. Doch das Dörfchen fügt sich, als einer von 1300 Bausteinen, passgenau wie ein Puzzleteil in die Studie zweier Leipziger Wissenschaftlerinnen. Genauer gesagt: Es ist der Name Dörgelin, der es Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich angetan hat. Noch genauer: Die Philologinnen sind an jenen alten Formen des Ortsnamens Dörgelin interessiert, die aus der Zeit stammen, da zuerst deutsches Recht und anschließend auch deutsche Bauern in das slawisch besiedelte Gebiet vordrangen - an Dalgolici und Dalgolin.
Diese beiden Namen trug der Ort im 12. und 13. Jahrhundert; villa Dalgolici ist für das Jahr 1178 belegt, villa Dalgolin aus dem Jahr 1216 überliefert. Auffällig ist die Veränderung im Suffix - ein deutliches Indiz für den Wechsel, der sich zwischen 1178 und 1216 vollzog: Während -ici erklärt, dass an diesem Ort die Familie, die Angehörigen des Mannes namens Dolgola wohnen; bedeutet -in-, dass der Ort dem Mann namens Dolgola gehört. Wurzelt der Name zuerst in der verwandtschaftlichen Beziehung seiner Bewohner, kennzeichnet er nach dem Suffix-Wandel die Besitzverhältnisse des Ortes.
1300 mal haben Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich nach typischen sprachlichen Formen und deren Veränderung gesucht. Dafür gruben sie anhand von 62 Messtischblättern, topographischen Karten im Maßstab 1:25, 1300 Ortsnamen aus. Jeden dieser Namen prüften sie auf seine kommunale Zuordnung und geographische Lage; in den Urkundenbüchern Mecklenburgs und Pommerns schürften sie nach den Belegen für die Existenz der Orte; zudem spürten sie anderweitige, bereits vorhandene Nachweise für das Bestehen eines Ortes auf. Eintausenddreihundert mal. "Manchmal war es ganz leicht, manchmal ..." Dr. Elzbieta Foster lächelt. Die mühsame und ergiebige Arbeit ist Geschichte. Jetzt liegt ein Fundus von 1300 Namen vor - nutzbar für Kolleginnen und Kollegen des Fachs. Aber, und darin liegen Ziel und Sinn des Projekts, vor allem die Geschichtswissenschaft, speziell Archäologie und Mediävistik, kann sich künftig auf die Erhebung stützen: Die 1300 Ortsnamen spiegeln das Mit-, Neben- und Gegeneinander von Deutschen und Slawen in jenem Gebiet und in jener Zeit wider, da die einen in die Länder und in die Gesellschaft der anderen vordrangen und die anderen mit dem Eindringen der einen leben lernen mussten.
Die Arbeit begann in der Wismarer Bucht bei den Abodriten; die Studie "Slawische Siedlung und Landesausbau im nordwestlichen Mecklenburg" aus der Feder von Peter Donat, Heike Reimann und Cornelia Willich erschien 1999. Mit dem "Interdisziplinären Beitrag zur Erforschung mittelalterlicher Siedlungsprozesse in der Germania Slavica" dehnte sich der Befund gen Osten in "Das Zisterzienserkloster Dargun im Stammesgebiet der Zirzipanen" aus; die Publikation von Hansjürgen Brachmann, Elzbieta Foster, Christine Kratzke und Heike Reimann liegt als Manuskript vor. Und wenn die Leipziger Philologinnen Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich nun im dritten und letzten Schritt das Stammesgebiet der Kessiner einbeziehen, dann haben sie nicht nur weitere 300 Ortsnamen gesichtet, erfasst und ausgewertet. Sie haben ihr Blickfeld zugleich auf jenen Stamm ausgedehnt, der zwischen den Abodriten im Westen und den Zirzipanen im Osten siedelte. So deckt die Untersuchung in der Summe 1300 Ortsnamen zwischen Wismarer Bucht und mittlerer Peene ab. Aus historischer Sicht entspricht das Gebiet weitgehend der Herrschaft der Fürsten von Mecklenburg um 1300, es bildet den Großteil der nordwestlichen Flanke der Germania Slavica - jenes Raumes, in dem Deutsche und Slawen aufeinander trafen. Im Unterschied zu Sachsen, wo deutsche Herrscher frühzeitig und dauerhaft Fuß fassten, scheiterten die Eroberer im Norden immer wieder - mehrere Feldzüge Otto des Großen (912 bis 973) blieben in ausgedehnten Sümpfen und Wäldern stecken. Folglich vollzogen sich Landausbau und Transformation im nördlichen Raum des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern vornehmlich in der Zeit des Hochmittelalters.
Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich stellen ihre abschließende Analyse unter den Titel "Vergleichende Untersuchungen zur Widerspiegelung der früh- und hochmittelalterlichen Siedlungsentwicklung im Namenschatz des ehemaligen Fürstentums Mecklenburg". Untermauert wird die philologische Studie durch einen siedlungsgeschichtlichen Beitrag von Dr. Torsten Kempke. Die beiden Philologinnen der Universität Leipzig und der Archäologe sind mit ihren Forschungen in das Projekt "Germania Slavica" eingebunden. Das läuft seit 1996 am Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) und zeichnet den Übergang von der slawischen zur deutschen Besiedlung zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert nach. Neben dem etymologischen Ansatz, der sich der historischen Entwicklung der Worte zuwendet, bergen Dr. Foster und Dr. Willich auch die historischen Aussagen, die sich in den 1300 Ortsnamen und in ihrem Wandel ausdrücken.
Aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive lassen sich die 1300 Namen in eine von drei Siedlungsphasen einordnen: in eine erste Periode, in der slawische Siedler die untersuchte Region bewohnten, ohne dass ein wirtschaftlicher Einfluss der Deutschen zu verzeichnen gewesen wäre; in eine zweite Periode, in der slawische Siedler zu Beginn des Landausbaus deutsche Formen des Wirtschaftens und Siedelns übernahmen (ohne dass sich deutsche Siedler in den slawischen Gebieten niedergelassen hätten); und in eine dritte Periode, in der deutsche Siedler im Zuge des Landausbaus in slawische Gebiete vordrangen.
In jeder Periode prägten sich Ortsnamen aus. Für den ersten und den dritten Abschnitt sind slawische bzw. deutsche Namen typisch, in denen sich das Andere sprachlich nicht niederschlug. Im übergreifenden Blick auf die Namentypen lassen sich ältere und jüngere Siedlungsgebiete bestimmen. "Je mehr Ortsnamen wir gefunden haben", verdeutlicht Dr. Foster, "umso älter ist das Siedlungsgebiet. Fand sich jedoch nur ein Namentyp, handelte es sich um ein jüngeres Siedlungsgebiet aus der Phase des Landausbaus." Ebenso widerlegt der genaue Blick auf topographische Namen slawischen Ursprungs das Vorurteil, sie hätten lediglich leichte, sandige Böden landwirtschaftlich genutzt.
Die zweite Phase ist komplexer. Noch sind die slawischen Siedler die Herren des Landes, noch prägen sie die Namen. Daneben jedoch entstehen unter deutschen Vorzeichen neue Wirtschafts- und Siedlungsformen. Wobei - und das macht Namenforschung hier so interessant, diffizil und spannend - diese Veränderung nicht von deutschen Siedlern getragen wird. Vielmehr stützt sie sich auf die Übernahme deutschen Rechts im Zuge des Landausbaus durch die slawischen Fürsten und Siedler. Bislang blieben diese Feinheiten in der Forschung unberücksichtigt. "Uns geht es darum, den Wandel, den Übergang zu zeigen", benennt Dr. Elzbieta Foster den zentralen Punkt der Studie.
Das Namensystem zeugt auf mehrfache Weise von diesem Wandel: So bestanden slawische Namen im regionalen slawischen onymischen System fort, zugleich aber wurden sie in das deutsche Namensystem integriert; veränderte Eigentumsverhältnisse zum Beispiel finden sich im Wechsel des Suffix, -ici zu -in- im Ortsnamen Dörgelin, wieder. Gründeten slawische Siedler neben einem bestehenden einen neuen slawischen Ort, nunmehr jedoch nach deutschem Recht, drückte sich dies im Bezug der Ortsnamen aufeinander aus: Der ursprüngliche Ort bekam den Zusatz "klein", die neue Gründung wurde mit "groß" beschrieben wie bei Großmethling und Kleinmethling, bei Großmarkow und Kleinmarkow. Wurden hingegen zwei bereits bestehende Orte zusammengelegt, wie Techesow und Altpannekow, dann verschwand ein Name aus der Überlieferung - bisher wurde dies als Wüstwerden des betreffenden Ortes interpretiert, nun schält sich heraus: Der Abbruch der Überlieferung liegt in der neuen Siedlungsform und der einher gehenden Namensänderung begründet. Neben diesen häufig anzutreffenden Änderungen von Ortsnamen wurden einige slawische Orte nach der Einführung des deutschen Rechts ganz und gar umbenannt, u. a. Dobermuzle in Brudersdorf und Glewe in Kleverhof. Und auch slawisch-deutsche Mischnamen wie Pohnsdorf, Schlackendorf lassen sich in dieser Zeit finden, wobei die jeweiligen Orte am Rande des slawischen Zentrums lagen. Schließlich und endlich traten im Übergang zur dritten Siedlungsphase auch neue deutsche Gründungen an die Stelle eines bereits bestehenden slawischen Ortes wie zum Beispiel Neukalen für Bugelmast.
Das Potential der 1300 Ortsnamen reicht weit über die Region, in der das Material erhoben wurde, hinaus. Mit dem Fundus können die Namenforscher an ältere und älteste Überlieferungen slawischer Ortsnamen neu herangehen und Vergleiche mit Polen, Böhmen und Mähren ziehen. Im Ergebnis zeigt sich zum einen dass sich der slawische Namenschatz des Untersuchungsgebiets mit der ältesten Schicht slawischer Namen anderer slawischer Siedlungsareale deckt. Zum anderen stimmt der Zeitpunkt überein, in dem sich die Ortsnamen ändern. "In dem Moment, wo die Deutschen kommen, gerät das slawische Namensystem aus den Fugen."
Nicht zuletzt schließen Dr. Elzbieta Foster und Dr. Cornelia Willich mit der systematischen Erfassung und Erschließung der Ortsnamen jene Lücke, die in der modernen deutsch-slawischen Onomastik klafft. Mehr als 50 Jahre ist es her, dass letztmals grundlegende Werke zu den slawischen Ortsnamen in diesem Raum publiziert wurden: 1948/49 legte Reinhold Trautmann, von 1926 bis 1948 Professor für slawische Philologie an der Universität Leipzig, seine zweibändige Studie über "Die elb- und ostseeslawischen Ortsnamen" vor; 1950 ließ der Philologe, nunmehr Ordinarius an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, "Die slawischen Ortsnamen Mecklenburgs und Holsteins" folgen. Seither wurden lediglich Artikel veröffentlicht - zu knapp und zu kurz, um die namenkundlichen Befunde unter siedlungsgeschichtlichem Aspekt auszuwerten. Daniela Weber
Weitere Informationen: Frau Dr. Foster
Telefon: 0341 97 37463
E-Mail: foster@uni-leipzig.de
Criteria of this press release:
History / archaeology, Language / literature
transregional, national
Research projects, Scientific Publications
German
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