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12/04/2002 13:40

Vom Schöppenstuhl bis zum Reichsgericht

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Leipzig ist der traditionsreichste Ort der deutschen Justiz: Erstmals bekam Leipzig anno 1483 ein Obergericht im heutigen Sinne. Von 1879 bis 1945 befand sich in der Stadt mit dem Reichsgericht die letzte Instanz für Straf- und Zivilsachen. Im Juli 1997 zog der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes von Berlin nach Leipzig. Im September dieses Jahres folgte das Bundesverwaltungsgericht - das höchste deutsche Verwaltungsgericht nahm seinen Sitz im sanierten Prachtbau des Reichsgerichts. Dessen Ursprünge und seine Geschichte, vor allem als Organ der Rechtsvereinheitlichung in Deutschland bis 1900, werden an der Universität Leipzig erforscht.

    Auf die Frage, warum er sich des Themas "Leipzig als Stadt der Rechtsprechung" angenommen habe, reagiert er spontan: "Weil ich in Leipzig bin." Dann fügt er die beiden wissenschaftlichen Gründe an: Erstens müsse man in der Rechtsgeschichte mindestens 40 Jahre zurück gehen, um auf Forschungen über Leipzig als Standort des Rechts zu stoßen - eine Anmerkung, die Prof. Kern in beide Richtungen ausspricht: Wurde in der DDR Forschung unter den Vorbehalt der Parteilichkeit gestellt, so endete der Blick aus der Bundesrepublik gen Osten an der Mauer. Zweitens ging mit dem Umzug des 5. Senats des Bundesgerichtshofes von Berlin nach Leipzig im Sommer 1997 die Debatte einher, ob dem BGH die Rolle des Nachfolgers des Reichsgerichtes zufalle. Angesichts der Tatsache, dass die Universität Leipzig über eine leistungsstarke Juristenfakultät verfügt, wäre es sträflich, sich des historischen Stoffes und seiner heutigen Implikationen nicht anzunehmen.
    Mit Bernd-Rüdiger Kern, Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht der Universität Leipzig, hat sich ein Experte des Themas angenommen, der seit seiner Heidelberger Studienzeit der Leidenschaft für Jurisprudenz und Geschichte frönt. Und er scheut sich nicht, in aktuelle Kontroversen wie die um die Rückführung der Bibliothek des Reichsgerichtes nach Leipzig einzugreifen. In seinen rechtsgeschichtlichen Forschungen lässt er sich vom Interesse an der territorialen Gesetzgebung und Rechtsprechung an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit sowie an der Geschichte der Rechtswissenschaft vom 17. bis zum 19. Jahrhundert leiten. Er selbst versteht sich als Denker, der Rechtsgeschichte problematisierend hinterfragt. Dabei konzentriert er sich auf strukturelle Studien, um die Art und Weise, in der sich akademische Fächer etablierten, zu ergründen. Zudem widmet er sich Persönlichkeiten, ohne deren Wirken Wissenschaftsgeschichte nicht zu schreiben sei.
    Mit Blick auf "Leipzig als Standort des Rechts" öffnen sich zwei Perspektiven - zum einen auf die Stadt als Sitz höchster deutscher Gerichtsbarkeit; zum anderen auf die Fakultät der Juristen an der 1409 gegründeten Alma mater Lipsiensis. "Da hat Leipzig viel mehr aufzuweisen als sämtliche anderen deutschen Städte", bilanziert Prof. Kern. Zu beiden Linien hat der Professor, der 1993 dem Ruf nach Leipzig folgte, bereits fundierte Studien vorgelegt. Das Fazit: "Leipzig hatte immer, regional wie überregional, eine relativ starke Funktion innerhalb der deutschen Rechtsprechung." Und zumindest im 19. Jahrhundert zählte auch die Fakultät, die bereits zuvor überregionale Aufmerksamkeit genoss, zu den drei führenden Deutschlands.
    Was nun die Stadt betrifft, so ist der so genannte Stadtbrief aus der Mitte des 12. Jahrhunderts als älteste überlieferte Rechtsquelle in die Annalen eingegangen. In ihm verlieh Markgraf Otto von Meißen Leipzig das Stadtrecht, hallisches und magdeburgisches. Als Stadtherr unterwarf der Markgraf die Bürger "seinem Richter"; in aller Regel sollten sie "vor kein anderes Gericht gezogen werden". Neben der stadtherrlichen entwickelte sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts auch eine städtische Gerichtsbarkeit. Und schon 1304, ergaben Prof. Kerns Studien in den Beständen der Universitätsbücherei Leipzig, nahm der "Schöppenstuhl" (das Schöffengericht der Stadt Leipzig) nicht allein die städtische Gerichtsbarkeit wahr, sondern wirkte zugleich als Oberhof für zahlreiche weitere Orte - heißt, in einem laufenden Verfahren wurde "über Feld geschickt", um den Oberhof zu befragen, wie die Sache zu entscheiden sei. Gutachten oder Urteilsvorschläge seitens des Oberhofes wurden hernach als eigenes Urteil des betreffenden Schöffengerichts verkündet bzw. in dessen Spruch einbezogen. "Erstmalig in der Geschichte trat Leipzig als Standort überregionaler Rechtsprechung auf." Ende des 15. Jahrhunderts beantwortete der Leipziger "Schöppenstuhl" - nach Einschätzung von Prof. Kern "vermutlich der bekannteste der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt" - Anfragen aus einem Gebiet, dessen Umfang mit Namen wie Gotha, Sangerhausen, Magdeburg, Breslau und Saalfeld umrissen ist.
    Strittig ist bis heute das Gründungsdatum der Juristenfakultät. Während der Historiker Karlheinz Blaschke das Gründungsjahr auf jenes der Universität Leipzig 1409 datiert, spricht sich Rechtswissenschaftler Kern für den Zeitraum zwischen 1434 bis 1446, "vermutlich" 1446, aus. "Die Quellen", so sein Hinweis, "sprechen lange von einer Juristenschule." Für die Gründung "spätestens im Jahre 1446" führt Prof. Kern zwei Belege an: Erstmals bezeichnet eine Urkunde die Juristen der Fakultät als "doctores facultatis iuridice", sie selbst nennen sich "doctores der iuristenschule zcu Leipzig". Doch er weist zugleich darauf hin, dass die doppelte Nennung ebenso vermuten lässt, "dass der Zusammenschluss der Juristen zu einer Fakultät schon früher erfolgt ist". Allerdings erst nach 1434, hatte der Landesherr doch in diesem Jahr den Ordinarius Konrad Donekorp noch als "unser schule des geistlichen rechtes vorweser und vorstehir" bezeichnet. Der älteste erhaltene Rechtsspruch der Fakultät ist von 1456 überliefert. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts nahm die Juristenfakultät der Universität Leipzig ihre eigene Spruchtätigkeit auf, ohne die Kompetenz gegenüber dem "Schöppenstuhl" abzugrenzen. Fiel diese Betätigung aus der Universität heraus anfänglich kaum ins Gewicht, erlangte sie im folgenden Säkulum überregionale Bedeutung, die sie bis zu den Reichsjustizgesetzen 1877 bewahrte. Allein in der Amtszeit des Ordinarius Heinrich Gottfried Bauer (1790 bis 1811) wurden über 30 000 Verfahren behandelt. Bis zur Staatsreform 1831 - in deren Zuge die Universität Leipzig in eine moderne Staatsanstalt umgewandelt wurde - bestritt die Juristenfakultät ihren Unterhalt nicht zuletzt durch diese Arbeit. Staatliche Verwaltung und Finanzierung trugen zum Aufstieg und zur Stellung der Juristenfakultät als bedeutendste in Deutschland, "neben, wenn nicht gar vor Berlin", bei.
    Ein "im modernen Sinne echtes Obergericht" erhielt Leipzig 1483, führt Prof. Bernd-Rüdiger Kern weiter aus. Die gemeinsam regierenden Brüder Ernst und Albrecht siedelten ihr Oberhofgericht fest in der Universitätsstadt an und richteten somit die erste, von der fürstlichen Landesherrschaft losgelöste Zentralbehörde Kursachsens ein. "Das weitere Schicksal des Gerichts", zuständig für das gesamte sächsische Territorium sowie darüber hinaus für alle kurfürstlichen Lehnsleute, "war nun eng mit der wechselhaften Entwicklung Kursachsens verbunden."
    Die nächste Ansiedlung eines Gerichts datiert auf das Jahr 1550: Das Leipziger Konsistorium ersetzte - wie allgemein üblich - die durch die Reformation obsolet gewordene geistliche Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche. Bis zur Übertragung seiner Aufgaben an staatliche Gerichte 1835 unterlagen Ehe-, Straf- und Disziplinarsachen sowie bürgerliche Streitigkeiten zwischen Geistlichen seiner Zuständigkeit. Die Justizreform 1835 beendete das weit über die Stadtgrenzen hinaus reichende Agieren Leipziger Gerichte, die Stadt verlor ihre Rolle als überregionales Justizzentrum.
    Verwundert zeigt sich Prof. Bernd-Rüdiger Kern, wenn vom 1683 ins Leben gerufenen Handelsgericht die Rede, oder genauer gesagt, eben nicht die Rede ist. Ein Schweigen, das in Anbetracht der Bedeutung Leipzigs als Messestadt "nur schwer verständlich" ist. Doch als sich im Juni 1869 der Norddeutsche Bund entschloss, sein Oberhandelsgericht in der Messe- und Handelsstadt anzusiedeln, dürfte dies auch dem historischen Vorläufer geschuldet gewesen sein. Zudem war wohl eine Vorentscheidung für den Sitz des Reichsgerichts gefallen. Zwar war der Standort Leipzig nicht unumstritten, aber die Wahl fiel mit 213 Stimmen für Leipzig gegenüber 142 für Berlin deutlich aus. Dem Reichsgericht, das am 1. Oktober 1879 mit einem Festakt an der Universität eröffnet wurde und zunächst den Bau seines Vorgängers, des Reichsoberhandelsgerichts, bezog, stand als erster Präsident Eduard von Simson (1810 bis 1899) vor. Rund um das Symposium zu dessen 100. Geburtstag gruppiert sich inzwischen eine Handvoll Dissertationen zu bedeutenden Leipziger Gelehrten des 19. Jahrhunderts, darunter der bekannte Straf- und Römischrechtler Carl Georg von Wächter, "einer der Großen des 19. Jahrhunderts"; der spätere sächsische Kultusminister Karl Friedrich Wilhelm Gerber, der "entschiedenste Vertreter der romanisierenden Germanistik"; Johann Ernst Otto Stobbe, bekannt für seine "Geschichte der deutschen Rechtsquellen" sowie der Römischrechtler Johannes Emil Kuntze, "zu Unrecht in Vergessenheit geraten".
    An diesem und an anderen Punkten kreuzen sich die Untersuchungen. Immer wieder fließen rechtshistorische Forschungen zu Universität, Juristenfakultät und Reichsgericht sowie zu ihren prägenden Persönlichkeiten ineinander und nebeneinander; teils überschneiden sich Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Das Beispiel der aktuellen Seminare an der Juristenfakultät, die sich aus historischer Perspektive mit Rechtsgermanistik, Rechtsgeschichte, Öffentlichem Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht befassen, verdeutlicht die Weite des Themas. Daniela Weber

    Weitere Informationen: Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern
    Telefon: 0341 97 35141
    E-Mail: kern@uni-leipzig.de


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Law, Politics
    transregional, national
    Research results
    German


     

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