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03/02/2004 09:31

Heinz, Elfriede und die Pixi. Untersuchung zum bundesdeutschen Nachkriegstourismus

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Von der Sommerresidenz zur Bettenburg: Eines der zentralen Elemente der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ist die Entwicklung des Tourismus vom Vorrecht weniger Privilegierter zum Massenphänomen. Seitdem ist die Urlaubsreise zum festen Lebensbestandteil der Deutschen geworden und prägte das Lebensgefühl des Wirtschaftswunders. Dr. Cord Pagenstecher untersuchte im Rahmen seiner Dissertation an der Freien Universität Berlin sowohl den gesamtgesellschaftlichen Wandel des Tourismus als auch ein exemplarisches Fallbeispiel: Heinz und Elfriede Schmidt, ein kinderloses Ehepaar aus dem bürgerlichen West-Berliner Stadtbezirk Steglitz. Sie durchliefen die typische deutsche Touristenkarriere der Nachkriegsjahre. Der Bäckermeister und seine Gattin unternahmen mit "Pixi", ihrem heiß geliebten Ford Taunus, Reisen durch ganz Mittel- und Südeuropa. Ihre liebevoll geführten Urlaubsalben mit Fotos, Postkarten, Landkarten und Tankquittungen - insgesamt 45 an der Zahl - dienten Cord Pagenstecher als Material für seine Forschung. Er untersucht, wie sich die Alben und andere Reiseprospekte im Zeitverlauf wandelten und setzt das Material mit soziologischen Theorien von Hans Magnus Enzensberger und John Urry in Zusammenhang. Er kommt zum Schluss, dass sich der bundesdeutsche Tourismus im Laufe der Jahre zunehmend demokratisiert, individualisiert und einen Wandel von Romantik zur Geselligkeit durchläuft.

    Die Reisebiografie der Schmidts reflektiert, bei aller Spezifität, übergreifende Entwicklungstrends des bundesdeutschen Tourismus. Cord Pagenstecher untersucht in seiner Arbeit über die Urlaubsreisen der Bundesdeutschen in den 1950er bis 1980er Jahren diese Entwicklungstrends. Er konzentriert sich auf die Leitbilder und die Konstruktionsmechanismen des touristischen Blicks im historischen Wandel. Zugleich lotet er die Möglichkeiten und Grenzen einer 'Visual History' aus. Nach Enzensberger habe sich der Tourismus parallel zur bürgerlichen Gesellschaft und Industriegesellschaft entwickelt. Hauptmotiv der modernen Touristen sei die Flucht vor der Disziplinierung des Alltags in der Industriegesellschaft. Dieser Fluchtversuch sei jedoch zum Scheitern verurteilt, denn der Tourismus als "Befreiungsversuch von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden."

    Darüber hinaus bezieht sich der Autor auf das Konzept des 'Tourist Gaze', des touristischen Blicks, das auf den englischen Soziologen John Urry zurückgeht. So seien Touristen vor allem damit beschäftigt, Zeichen und Symbole zu sammeln. Sehe ein Parisbesucher zwei einander Küssende, sei ihm das ein Symbol für das romantische - oder frivole - Paris. Als Ansatz zu einer 'Visual History' analysiert der Forscher Wahrnehmungsmuster der Reisenden vor allem an Bildquellen und setzt dabei quantitative und qualitative Methoden aus der Semiotik, Ikonologie, Inhaltsanalyse und Oral History einsetzt. Die wichtigsten Quellen der Dissertation sind Tourismusprospekte, Reiseführer und private Fotoalben.

    Im Verlauf von vier Jahrzehnten erlebte der deutsche Tourismus einen massiven Wandel, der sich durch eine quantitative und eine qualitative Zäsur periodisieren lässt. Motorisierte Auslandsreisen hatten ihren Anfang um 1960, mit denen auch der moderne Massentourismus begann. Mit dem Wertewandel und der Professionalisierung der Tourismusindustrie setzte sich um 1970 der gesellige Blick als Leitbild durch, was sich zum Beispiel an der Beliebtheit von Strandurlauben zeigt. Auch in der individuellen Reisebiografie der Schmidts zeigt sich diese Verschiebung vom romantischen zum geselligen Blick: Statt der anfangs - mehr oder weniger begeistert - absolvierten Sightseeing-Programme genoss das Berliner Ehepaar immer häufiger gesellige Begegnungen mit Gastgebern und anderen Reisenden. Dies mag zum einen am hohen Alter des Ehepaars liegen, zum anderen aber auch an der gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz des geselligen Blicks. Die Veränderung zeigt sich auch an Folkloreveranstaltungen, die der romantischen Suche nach dem ursprünglichen Brauchtum entspringen, durch die touristische Aufbereitung aber zunehmend als geselliges Vergnügungsevent inszeniert und die Reisende auch entsprechend belustigt wahrnahmen.

    Die Wahrnehmung der Reisenden war dabei stark beeinflusst von der normierenden Tourismuswerbung einerseits, von individuellen Aneignungs-, Verarbeitungs- und Erinnerungsprozessen andererseits. In verschiedenen Medien wie etwa Werbung, Reiseführern und Privatfotos und verschiedenen Reisearten, zum Beispiel Alpen-, Stadt- und Strandtourismus, zeigen sich insgesamt übereinstimmende Entwicklungen: Der visuelle Symbolkonsum spielte eine wachsende Rolle im Tourismus. Der touristische Blick der Bundesdeutschen orientiert sich zunehmend am geselligen Erlebnisleitbild; er untergeht einer Standardisierung und lässt sich stärker von einer industrialisierenden Tourismusbranche beeinflussen.

    Insgesamt bestätigen die Einzelbefunde die Hypothese, dass der gesellige Blick im Tourismus an Bedeutung gewinnt, wenngleich der romantische Blick nicht völlig verschwindet. Der gesellige Blick John Urrys trat also im Verlauf der massentouristischen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg neben den romantischen Blick Hans Magnus Enzensbergers auf, verdrängte ihn aber nicht.

    Die Schmidts resümierten nach einer Italienreise: "bella viaggio finito - die schöne Reise ist zu Ende". Möge sich der Tourismus auch wandeln, vorbei wird er für die Deutschen wohl nie sein.

    von Gesche Westphal

    Literatur:
    Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990, Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 34, Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2003, ISBN: 3-8300-1076-1

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Cord Pagenstecher, Telefon: 030 / 61284381, E-Mail: pagenstecher@web.de


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Research results
    German


     

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