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Zu Beginn der COVID-19-Pandemie mussten deutsche Präsenzuniversitäten plötzlich auf Online-Lehre umschalten. Eine Umfrage unter Studierenden liefert Grundlagen für die Weiterentwicklung virtueller Studienangebote / Veröffentlichung in „Frontiers in Psychology“
Bei den Hoffnungen und Befürchtungen, die Studierende zu Beginn der COVID-19-Pandemie mit dem Umstieg auf das virtuelle Studium verknüpften, überwiegen leicht die negativen Erwartungen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Thomas Hoss, Amancay Ancina und Professor Dr. Dr. Kai Kaspar vom Department Psychologie der Universität zu Köln während des ersten bundesweiten Lockdowns in Deutschland zu den Erwartungen von Studierenden hinsichtlich der Risiken und Chancen dieser herausfordernden Situation durchgeführt haben. Die Ergebnisse sind unter dem Titel „Forced Remote Learning During the COVID-19 Pandemic in Germany: A Mixed-Methods Study on Students’ Positive and Negative Expectations“ in der Fachzeitschrift Frontiers in Psychology erschienen.
Ab dem Sommersemester 2020 mussten Hochschulen weltweit innerhalb kürzester Zeit ihre Infrastruktur auf ein vollständiges Online-Angebot umstellen – oft ohne hinreichende Vorbereitung sowie Lehr- und Lernkonzepte. Dozierende und Studierende waren gezwungen, ihre gewohnten Routinen und Konzepte des Lehrens und Lernens anzupassen. Die Studie offenbart, welche positiven wie negativen Erwartungen und Hoffnungen Studierende während des ersten Lockdowns im April und Mai 2020 an ein E-Learning Semester hatten. „Besonders interessant sind diese Einschätzungen auch, um nach mittlerweile drei virtuellen Semestern rückblickend auszumachen, welche der erwarteten Effekte tatsächlich eingetreten und weiterhin aktuell sind“, ordnet Professor Kaspar die Ergebnisse ein. Dieser Blick zurück an den Anfang der Pandemie sei somit nicht nur interessant, um den Status-Quo zu ermitteln, sondern biete darüber hinaus eine Grundlage, um mögliche Maßnahmen für die Zukunft abzuleiten. Denn für das kommende Wintersemester besteht weiterhin Unsicherheit, ob, und wenn ja wie, Lehrveranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden können.
Im Rahmen der Studie lieferte eine Gruppe aus 584 Studierenden unterschiedlicher Fächer, Universitäten und Studienphasen insgesamt über 3.800 Aussagen zu ihren positiven und negativen Erwartungen an das bevorstehende Online-Semester und bewertete zudem die persönliche Relevanz jeder genannten Erwartung. Mit 57,7 Prozent überwogen die negativen Erwartungen gegenüber den positiven. Auch wurde den negativen Erwartungen im Durchschnitt eine höhere persönliche Relevanz als den positiven zugeschrieben. Einen Unterschied spielte dabei auch der angestrebte Abschluss: Masterstudierende schrieben ihren negativen Erwartungen eine höhere Relevanz zu als es Bachelorstudierende taten. „Das liegt vermutlich daran, dass Masterstudierende bereits ausgeprägte Studienroutinen entwickelt haben, sodass der abrupte Umstellungsprozess von ihnen als herausfordernder wahrgenommen wurde“, schlussfolgert Thomas Hoss. „Wir fanden zudem, dass jene Erwartungen, die den befragten Personen zuerst in den Sinn kamen, durchschnittlich als persönlich bedeutsamer bewertet wurden als alle danach genannten Erwartungen. Das galt für negative wie positive Erwartungen gleichermaßen. Dieser kognitive Effekt zeigt, dass wir der Reihenfolge, in der befragte Personen Dinge äußern, grundsätzlich Beachtung schenken sollten“, ergänzt Professor Kaspar.
Zu den am häufigsten genannten negativen Effekten gehörten die Sorge vor einer Verschlechterung der Lehre und des Lernens inklusive der Leistungserfassung, eine erwartete Abnahme sozialer Interaktion und Kommunikation mit anderen Studierenden, eine verschlechterte Interaktion mit Lehrenden und Universitätsmitarbeitenden sowie reduzierte Rückmeldungs- und Unterstützungsangebote. Zudem nahmen viele Studierende eine Ungewissheit aufgrund fehlender Informationen wahr, befürchteten zugleich eine Erhöhung der notwendigen zeitlichen Anstrengung und der Arbeitsbelastung und eine Abnahme ihrer Studienmotivation. „Daneben berichteten viele Studierende negative Erwartungen bezüglich ihres Studienverlaufs und die Angst vor einer Studienzeitverlängerung. Die Schließung von wichtigen Universitätseinrichtungen und Dienstleitungen und damit ein erschwerter Zugang zu Ressourcen waren ebenfalls häufig genannte negative Aspekte“, fasst Amancay Ancina weitere Ergebnisse zusammen.
Demgegenüber wurden als positive Erwartungen eine erhöhte Flexibilität im Zeit- und Arbeitsmanagement, in der Rezeption und Bearbeitung von Kursmaterialien sowie in der Wahl des Lernorts häufig genannt. „Dieser Hoffnung auf mehr individuelle Gestaltungsfreiheit, welche durch ein Online-Studium grundsätzlich möglich wird, stand aber die sehr häufig genannte Befürchtung gegenüber, dass die Studierenden nicht über ausreichende Fähigkeiten im Bereich der Selbstregulation, der Selbstdisziplin und des selbstorganisierten Lernalltags verfügen könnten“, sagt Professor Kaspar. Viele Studierende berichteten zudem von der Hoffnung, dass die notgedrungene Umstellung des Studiums auf Online-Angebote insgesamt zu einer Zeitersparnis führen würde, beispielsweise aufgrund des Wegfalls langer Anfahrtswege zur Universität. Auch positive Effekte auf die Work-Life-Balance wurden häufig erwähnt, wobei eine kleinere Gruppe Studierender eine verschlechterte Trennung von Studium und Privatleben befürchtete. Ebenfalls gehörte zur Hoffnung vieler Befragter, dass sich ihre medienbezogenen Kompetenzen durch den intensiven Umgang mit digitalen Technologien nachhaltig verbessern könnten und dass die Digitalisierung auf gesellschaftlicher Ebene und an den Universitäten voranschreiten würde.
Zusammengefasst zeichnen die Studienergebnisse ein sehr detailliertes und gemischtes Stimmungsbild unter den Studierenden zu Beginn der Pandemie. Diese Daten sind für das Forschungsteam eine wichtige Grundlage, um den Status-Quo nach mittlerweile drei fast vollständig digitalen Semestern an deutschen Universitäten kritisch zu bewerten: „Die damals schon von vielen befürchtete soziale Vereinsamung aufgrund fehlender physischer Kontaktmöglichkeiten an den Universitäten ist zu einer monatelangen Realität aller universitärer Statusgruppen geworden“, hält Professor Kaspar die Ausgangssituation fest. Er und sein Team wollen in diesem Zusammenhang folgende Fragen klären: Inwieweit ist es gelungen, diese Entwicklung durch geeignete kreative Austauschformate im digitalen Raum zumindest etwas abzumildern? Sind die von den Studierenden befürchteten Qualitätseinbußen beim Lehrangebot und bei den Lernprozessen tatsächlich zu beobachten? Welche grundsätzlichen Angebote müssen Universitäten schaffen, um Studierenden die notwendigen selbstregulatorischen Fähigkeiten zu vermitteln, um die Chancen größerer Flexibilität durch Online-Angebote für ihren eigenen Lernalltag zu nutzen? Und nicht zuletzt: Wie müssen die Angebote aussehen, die den erhofften Zuwachs an Medienkompetenz tatsächlich fördern? Anhand dieser Fragen wollen die Wissenschaftler:innen eine Diskussion anregen, um universitäre Online-Angebote zu optimieren und zukunftsfähig zu machen.
Professor Dr. Dr. Kai Kaspar
Department Psychologie
kkaspar@uni-koeln.de
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2021.642616/full
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students, all interested persons
Psychology
transregional, national
Research results, Studies and teaching
German
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