Die deutsche Strafprozessordnung sieht vor, dass der Verteidiger sein Plädoyer in erstinstanzlichen Verfahren immer erst nach dem Staatsanwalt hält. Diese Reihenfolge stellt aus psychologischer Sicht einen gravierenden Nachteil für den Angeklagten dar, meinen Wissenschaftler von der Uni Würzburg. Grund: Das Urteil des Richters werde stark von der Höhe des zuerst geforderten Strafmaßes beeinflusst.
Diese Beeinflussung greift auch dann, wenn die Strafmaßvorgabe von einem juristischen Laien oder einem parteiischen Zwischenrufer im Gerichtssaal stammt, und auch dann, wenn es sich bei den juristischen Urteilern um erfahrene Strafrichter handelt, so die Sozialpsychologen Prof. Dr. Fritz Strack, Dr. Birte Englich und PD Dr. Thomas Mussweiler. Fordert der Staatsanwalt eine hohe Strafe, so falle das Urteil im Durchschnitt härter aus als wenn der Staatsanwalt eine milde Strafe fordert.
Die Positionierung des Plädoyers der Staatsanwaltschaft vor der Verteidigung entspricht daher nach Ansicht von Dr. Englich nicht dem juristischen Verfahrensgrundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten". Tatsächlich könne gezeigt werden, dass die Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft deutlich an Einfluss verliert, wenn die Verteidigung zuerst plädiert. Hinzu komme, dass nicht nur das Urteil des Richters, sondern zuvor schon die Verteidigung von der Vorgabe der Staatsanwaltschaft beeinflusst wird: Auch sie passt sich der Strafmaßforderung des Staatsanwalts an.
Die Würzburger Psychologen führen das auf so genannte Ankereffekte zurück. Darunter versteht man den Einfluss einer Zahlenvorgabe auf numerische Urteile, wenn diese "unter Unsicherheit" gefällt werden - das bedeutet unter suboptimalen Urteilsbedingungen, zum Beispiel wenn eine Entscheidung unter Zeitdruck oder aufgrund unvollständiger oder nicht eindeutiger Informationen getroffen werden muss oder wenn der Urteiler abgelenkt ist.
Strafurteile sind in der Regel numerische Urteile unter Unsicherheit, denn es werden die Dauer von Haftstrafen, die Höhe von Geldstrafen oder die Dauer gemeinnütziger Tätigkeiten bestimmt. Gleichzeitig belegen zahlreiche Untersuchungen, dass Juristen aufgrund vollkommen identischer Informationen zu deutlich unterschiedlichen Strafurteilen kommen. Aufgrund dieser Urteilsunsicherheit können Einflüsse wie der Ankereffekt bei juristischen Urteilen wirken.
Ankereffekte wurden nicht nur bei der Urteilsfindung vor Gericht, sondern auch in anderen Bereichen nachgewiesen. In einer klassischen Untersuchung amerikanischer Psychologen sollten Versuchspersonen den Prozentsatz der afrikanischen Staaten in der UNO schätzen. Zuvor war ein Glücksrad gedreht worden, und die dabei zufällig bestimmte Zahl hatte als Ankerwert einen offenkundigen Einfluss auf die Schätzungen.
Auch erfahrene Automechaniker lassen sich durch Ankervorgaben leiten, wenn sie den Wert eines Gebrauchtwagens angeben sollen. Selbst die Einschätzung der eigenen Intelligenz und sogar das tatsächliche Abschneiden bei Intelligenzaufgaben lassen sich durch Ankervorgaben manipulieren, wie Dr. Englich erklärt.
Mit dem Einfluss von Ankereffekten auf die Urteilsbildung vor Gericht befassen sich die Würzburger Psychologen unter der Leitung von Prof. Strack im Rahmen eines Projektes, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Geprüft werden auch Korrekturmöglichkeiten, die sich aus der sozialpsychologischen Grundlagenforschung für den beschriebenen Urteilseffekt ergeben.
Weitere Informationen: Dr. Birte Englich, T (0931) 31-2161, Fax (0931) 31-2812, E-Mail:
englich@psychologie.uni-wuerzburg.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Politik, Psychologie, Recht
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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