Hirnforschung en miniature: Deutsch-schweizerisches Wissenschaftlerteam zeigt, wie Ameisen ihren Weg finden. Ergebnisse jetzt veröffentlicht in Science
Nichts kann die tunesische Wüstenameise Cataglyphis von ihrem Weg abbringen. Das winzige Insekt, dessen Gehirn gerade einmal 0,1 Milligramm wiegt, verfügt über ein perfektes Navigationssystem. Mehr als hundert Meter läuft die Ameise kreuz und quer durch die trostlose Einöde, um Futter zu suchen - und kehrt dann mit ihrer Beute auf dem kürzesten Weg schnurgerade zum Nest zurück. Wollte der Mensch eine ähnliche Leistung erbringen, müsste er zig Kilometer im einförmigen Gelände umherlaufen und dann geradlinig zum Ausgangspunkt zurückfinden - zweifellos eine schier unmögliche Aufgabe. Wie aber gelingt es den winzigen Insekten, nicht vom Wege abzukommen? Diese Frage beschäftigt seit einigen Jahren ein Wissenschaftlerteam, deren Vorhaben von der VolkswagenStiftung mit rund 500.000 Euro gefördert wird. Jüngst fanden die Forscher heraus, wie die kleinen Tiere ihre zurückgelegten Wegstrecken messen: Sie "zählen" ihre Schritte. Die erstaunlichen Versuche und ihre Ergebnisse sind veröffentlicht in der Zeitschrift Science (30. Juni 2006, Vol. 312).
Um die neuronalen Leistungen der Wüstenameise zu verstehen, fährt eine Gruppe Schweizer und deutscher Biologen Jahr für Jahr nach Tunesien und beobachtet das Treiben der winzigen Tiere in einem ausgetrockneten Salzsee. Es sind Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, die dort gemeinsam experimentieren: Der Neurobiologe Professor Dr. Harald Wolf von der Universität UIm, der Zoologe Professor Dr. Rüdiger Wehner von der Universität Zürich und der Verhaltensphysiologe Professor Dr. Bernd Ronacher von der Humboldt-Universität Berlin.
Mit ihren Versuchen haben sie bereits herausgefunden, dass der kleine Wüstenbewohner die so genannte Wegintegration nutzt, um sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. Das heißt, die Tiere "merken" sich für jeden Wegabschnitt, in welche Richtung und wie weit sie sich vom Nest entfernen. Daraus "errechnen" sie dann den direkten Rückweg zur Kolonie. Richtung und Entfernung sind demnach die beiden Parameter, die die Tiere für ihre Navigation zwischen Futter und Nest benötigen. Schon seit einiger Zeit wissen die Forscher, dass die Ameisen die Richtung mittels eines Sonnenkompasses bestimmen. Anhand des Polarisationsmusters des Sonnenlichtes, das sie mit speziellen Sehzellen am oberen Rand ihrer Augen wahrnehmen, können sie erkennen, um wie viel Grad ihr Weg vom Stand der Sonne abweicht. Spezielle Kompassneuronen im Ameisenhirn verrechnen diese Informationen.
Doch wie bestimmen die Insekten, welche Entfernung sie bei ihrer Suche nach Futter zurückgelegt haben? Hier fanden die Wissenschaftler nun mittels ausgeklügelter Experimente die Antwort: Die Wüstenameise benutzt eine Art Schrittzähler oder wie die Wissenschaftler es nennen, einen Schritt-Integrator, denn zählen in unserem Sinne ist es wohl nicht. Um dies festzustellen, veränderten die Forscher bei den Ameisen, die auf Futtersuche waren, operativ die Beinlänge - einige erhielten Stelzen, anderen wurden die Beine gekürzt. Dieser Eingriff erfolgte aber erst, wenn die Ameisen ihre Beute gefunden hatten und sich auf den Heimweg machen wollten. Schickte man die Tiere - die nach dem Eingriff so vital waren wie zuvor - dann von ihrem Futterplatz zurück zum Nest, schossen die Langbeinigen über das Ziel hinaus, während die Kurzbeinigen ihr Nest eher erwarteten. Ihr "Zählen" von Schritten auf dem Hinweg, der mit normaler Beinlänge zurückgelegt worden war, stimmte nun nicht mehr mit der Wegstrecke überein. Ein weiterer Versuch, bei dem die "Stelzengänger" und die "Kurzbeiner" dann erneut auf Futtersuche geschickt wurden, bestätigte das Ergebnis: Beide Gruppen erreichten ihr Nest nun wieder problemlos: Die auf dem Hinweg bestimmten Schritte führten bei unveränderter Beinlänge - ob kurz oder lang - sicher zum Nest zurück.
Wie aber bringen die Ameisen in ihrem System der Wegintegration die gemessene Wegstrecke, die meist im Zickzackkurs verläuft, und die durch den Himmels-Kompass jeweils ermittelte Richtung zusammen, um den korrekten "Heimweg-Vektor" zu berechnen? Und: Kann die gemessene Entfernung auch ohne diesen Kompass eine zielsichere Navigation ermöglichen? Um diese Fragen zu beantworten, lassen die Wissenschaftler die Tiere in winkelig angeordneten, nach oben offenen Kanälen zu einer Futterquelle laufen, wobei das Sonnenlicht im mittleren Teil der Teststrecke abgeschirmt wird. Anschließend beobachten sie den Rückweg der Ameisen auf ebener Erde. Wie sich die fehlende Richtungsinformation durch Abschirmung nach oben auf den eingeschlagenen Rückweg auswirkt, werden wir in Kürze erfahren. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse im Journal of Experimental Biology befindet sich im Druck.
Um die "Gedankenwelt" der Ameisen vollständig zu begreifen, werden die Wissenschaftler noch manches Mal in der Wüste schwitzen müssen. Doch die Mühen lohnen sich, denn die Ergebnisse ihrer Forschungen am Kleinstnavigator haben Modellcharakter: Sie zeigen, wie aus dem Zusammenwirken eher einfacher neuronaler Strukturen hoch komplexes Verhalten resultieren kann. Darüber hinaus könnten die Ergebnisse auch für die Entwicklung autonomer Robotersysteme interessant sein.
Originalveröffentlichungen
Wittlinger M, Wehner R, Wolf H:
The Ant Odometer: Stepping on Stilts and Stumps.
Science, Vol. 312, S. 1965
Ronacher B, Westwig E, Wehner, R:
Integrating two-dimensional paths: Do desert ants process distance information in the absence of celestial compass cues?
Journal of Experimental Biology, im Druck
Weitere Auskünfte und Kontakt
Humboldt Universität Berlin
Abt. Verhaltensphysiologie
Prof. Dr. Bernd Ronacher
Telefon: 030 2093 - 8806
E-Mail: bernhard.ronacher@rz.hu-berlin.de
Universität Ulm
Abt. Neurobiologie
Prof. Dr. Harald Wolf
Telefon: 0731 502 - 2630
E-Mail: harald.wolf@uni-ulm.de
Universität Zürich
Zoologisches Institut
Prof. Dr. Rüdiger Wehner
Telefon: 0041 1 635 - 4831
E-Mail: rwehner@zool.unizh.ch
VolkswagenStiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Christian Jung
Telefon: 0511 8381 - 380
E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de
Der Text der Presseinformation steht im Internet zur Verfügung unter http://www.volkswagenstiftung.de/service/presse.html?datum=20060710
Die Wüstenameise Cataglyphis auf Stelzen
M. Wittlinger/Universität Ulm
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie, Geowissenschaften, Informationstechnik, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie, Verkehr / Transport
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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