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31.01.2001 20:27

Erinnern zum 27. Januar tut weh und gut

Dr. Edmund von Pechmann Hochschulkommunikation
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

    Wichtige Diskussion über »Menschenzüchtung und Menschenverachtung«

    Die Universität Greifswald gedachte auch an diesem 27. Januar, dem Tag, an dem 1945 endlich die Gefangenen von Auschwitz befreit wurden, der Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Jahr gab es neben einem Hauptvortrag des Medizingeschichte-Emeritus Richard Toellner aus Münster über den »Rassenhygieniker«, später »Humangenetiker« Otmar Frhr v. Verschuer und seinen Lieblingsschüler, dem KZ-Arzt Mengele eine Podiumsdiskussion über »Menschenzüchtung und Menschenverachtung«. In den Hörsaal des Anatomie-Instituts waren drei bekannte Wissenschaftler eingeladen.

    Der Historiker Hans-Walter Schmuhl veröffentlichte 1987 das Buch »Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ðlebensunwerten LebensÐ 1890-1945«. Der Molekularbiologe Benno Müller-Hill arbeitete lange am Institut für Genetik in Köln und veröffentlichte 1984 die Studie »Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933-1945«; dieses Buch gehörte zu den ersten größeren Arbeiten nach 1945, die die Beteiligung deutscher Wissenschaftler aus der Medizin an dem nationalsozialistischen Verbrechen thematisierten; mittlerweile ist es in viele europäische Sprachen übersetzt wie auch ins Hebräische und Japanische. Der Medizinhistoriker Richard Toellner leitete jahrelang das Institut für Theorie und Geschichte der Medizin in Münster; er war einer der ersten Medizingeschichte-Ordinarien, der der Erforschung der Medizin im Nationalsozialismus in seinem Institut Raum gab. Außerdem forschte er viel über ärztliche Ethik, wirkte sehr intensiv an der Einrichtung der Ethik-Kommissionen in der Medizin mit und leitete deren mehrere.

    »Menschenzüchtung« beginnt für Hans-Walter Schmuhl schon bei Eingriffen in die menschliche Keimbahn. Krankheit und Gesundheit sind für ihn keine feststehenden Begriffe, sondern gesellschaftlich abgeleitete Übereinkünfte und müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. In bestimmten sozialen und politischen Verhältnissen »Krankes« gelte unter anderen Bedingungen als »gesund«. Er plädierte für einen Verzicht auf die Umsetzung des gentechnisch Möglichen und Machbaren. Die heutige Humangenetik habe ein Instrumentarium, das, in den 1930er Jahren noch nicht vorhanden, eine neue Aktualität eugenischer Gedanken entstehen lassen könne.

    Benno Müller-Hill interessierte besonders die deutsche Sicht auf die Genetik und nach 1945 das lange Schweigen der Wissenschaft zu den Verbrechen der Stigmatisierung, Sterilisierung und Ermordung im Nationalsozialismus von sogenannt »rassisch Minderwertigen« und »Geisteskranken«. Erst heute fragen Institutionen wie die Max Planck-Gesellschaft nach der Verantwortung von Wissenschaftlern in ihrer Vorgängerin, der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft. Es herrsche eine »verquere« öffentliche Meinung zur Humangenetik vor - zu sehen an der Diskussion nach einer Äußerung von James Watson, dem Mitentdecker der DNA-Doppelhelixe. Watson hat das Recht der Schwangeren verteidigt, sich für oder gegen die Abtreibung eines genetisch geschädigten Embryos zu entscheiden und eine gewaltige Zunahme diagnostischer Möglichkeiten prognostiziert. Benno Müller-Hill stimmte Watson zu; eine völlig andere Sache sei, ob der Staat Abtreibungen verlange oder eine Betroffene sie wünsche.

    Richard Toellner fragte nach der Stellung von Kranken und Behinderten in einer Leistungsgesellschaft, die kaum Platz für jene Menschen lasse. Kranke und Behinderte sollten nicht bloß als Objekt medizinischer Wissenschaft und Therapie sein, weil dies die Gefahr der Negierung der Person mit sich bringe. Er kritisierte das Reduzieren des menschlichen Seins auf seine Biologie, woraus sich auch eine Philosophie des »lebensunwerten Lebens« ableiten lasse. Manche Wissenschaftler träumen vom gesunden, schönen und starken Menschen; Philosophie und Bioethik habe ihre kritische Funktion aufgegeben und bemühe sich nur noch, im ethischen Diskurs das zu legitimieren, was bereits von der Wissenschaft entwickelt und vorgegeben sei.

    Auch die Zuhörer diskutierten die Themen sachlich, aber kontrovers und fragten nach der sozialen Konstruktion von Wissenschaft. Neue Aspekte nach den Kurzvorträgen waren die Frage der Macht der Wissenschaft und der Ohnmacht des Patienten sowie die Beziehungen von Wissenschaft und Politik. Wie entstehe Moral bei Wissenschaftlern? Was verändere sie oder lasse sie verschwinden? Die Sozialisation und die Erziehung von Wissenschaftlern seien wichtig. Am Ende der Diskussion gab es eindrückliche Worte über die Würde des Menschen, besonders des Kranken und Behinderten.

    Auskunft zum Diskussionsstand gibt
    Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach, Institut für Geschichte der Medizin, Rathenaustr. 48, 17487 Greifswald, Tel. 03834-86-5780, Fax 86-5782, e-mail: geschmed@uni-greifswald.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    fachunabhängig
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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