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Veranstaltung


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13.07.2007 - 15.07.2007 | Berlin

Konjektur und Krux. Eine Tagung zur Methodik der Philologie am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin

Konzeption und Organisation: Kai Bremer und Uwe Wirth

"Kommt man bei einem Schriftsteller auf eine verdorbene Stelle", heißt es bei Friedrich Schleiermacher in Hermeneutik und Kritik, "und man hat dann nur eine Ausgabe, so entsteht die Konjektur, also das divinatorische Verfahren." Nun ist das divinatorische Verfahren nur eine Seite der philologischen Medaille, auf der anderen Seite steht das urkundliche Verfahren der "bestätigenden Vergleichung". Die divinatorische Methode des Konjizierens geht auf Sinn, sobald sie vom Teil aufs Ganze schließt, die urkundliche Methode der Komparation hebt dagegen auf das Partikulare ab: auf das, was buchstäblich da ist - oder eben nicht. Das Geschäft des Philologen, so Schleiermacher, besteht in der "Abschätzung beider Methoden".
Eine Anekdote aus der Bibelphilologie zeigt aber auch, dass man mitunter jede philologische Medaille zweimal herumdrehen muss, bevor der Groschen fällt: Nachdem Paulus verhaftet worden war, verfasste er den Brief an die Philipper und empfahl ihnen Timotheus an, weil dieser ihn selbstlos unterstützt hatte. In der modernen katholischen Einheitsübersetzung der Bibel heißt es dazu lakonisch, Timotheus habe "sein Leben aufs Spiel gesetzt" (Phil 2,30). In der berühmten Übersetzung Martin Luthers von 1533 klingt das weit zögerlicher: Timotheus sei dem Tod sehr nahe gekommen, "da er sein leben geringe bedachte". Diese für Luther untypisch defensive, ja missverständliche Wortwahl lässt ahnen, dass der Reformator an dieser Stelle ein Übersetzungsproblem hatte.
Luther ging, anders als die Übersetzer vor ihm, für seine Bibelübersetzung nicht von der Vulgata aus, sondern direkt auf den griechischen Text zurück. Dort fand er das Wort 'parabouleuestai'. Dieses Wort stellte nicht nur Luther, sondern auch sprachlich versiertere Theologen und Philologen seiner Zeit vor große Probleme - etwa Erasmus von Rotterdam. Im Kommentar zur Statenvertaling, der wesentlichen niederländischen Bibelübersetzung aus dem 17. Jahrhundert, wird die Schwierigkeit dann prägnant auf den Punkt gebracht: Mit 'parabouleuestai' sei wohl eine Entschlussfreudigkeit gemeint, die nicht einmal Rücksicht auf das eigene Seelenleben nehme. Den Körper Gefahren auszusetzen, das wäre in Ordnung gewesen. Doch das Seelenleben 'gering bedenken'? Das war für fromme Christen wie den Wegbegleiter des Apostels undenkbar.
In ihrem Kommentar berücksichtigten die Übersetzer der Statenvertaling nicht, dass der Leidener Philologe und Historiker Joseph Scaliger schon 1600 in einer Edition 'parabouleuestai' durch das Partizip 'paraboleusamenos' ersetzt hatte. Dabei handelte Scaliger offensichtlich intuitiv. Er kannte das Wort vermutlich nicht, hatte es wohl vielmehr selbst erfunden und bezeichnete die Ersetzung deswegen als seine Konjektur ("meam conjecturam"). Dieses Vorgehen war für Scaligers Zeitgenossen problematisch, denn immerhin galten die griechischen Ausgaben des Neuen Testaments als zuverlässig - kritische Zweifel an der Überlieferung des überlieferten Bibeltextes wurden nur zögerlich formuliert.
Bemerkenswerterweise fand Scaligers Konjektur nicht nur Eingang in renommierte Ausgaben des Neuen Testaments, sondern wurde sogar durch Handschriftenfunde bestätigt: Luthers Vorlage war an dieser Stelle unzuverlässig, Scaligers genialisch anmutende Konjektur setzte sich durch. Selbst die revidierte Lutherübersetzung geht dementsprechend heute von einem anderen Wort aus als Luther.
Scaligers Konjektur ist zugleich Ausdruck für ein Selbstbewusstsein, das die Philologie der folgenden Jahrhunderte prägen sollte, das aber erst Schleiermacher als Problem erkannte: "Lassen sich für die Konjekturalkritik Regeln geben? Nein, keine positive Regeln, sondern nur Kautelen. Positive Regeln aber so wenig, als es für das Erfinden eine Kunstlehre gibt. Die Konjektur ist Sache des durch Übung gebildeten Talents."
Die moderne Philologie hat Zweifel an dieser nachgerade kunstmäßigen Verfahrensweise angemeldet und das Talent verabschiedet. An die Stelle des Talents ist eine markierte Leerstelle getreten: die Krux. Während die Konjektur eine tastende, mehr oder weniger riskante Überschreitung der Grenze zwischen Nicht-Wissen und Wissen vornimmt, ist die Krux eine Art Limes, durch den eine Zone des (Noch-)Nicht-Wissens ausgezeichnet wird. Mit anderen Worten: Die Krux bezeichnet ein ungelöstes Problem der Leerstellenergänzung, das als zukünftiges Forschungsprojekt einen offenen Bezirk umgrenzt. Doch kann die Krux die Konjektur nicht gänzlich ersetzen. Im geschilderten Fall haben zusätzliche Handschriften gezeigt, dass Scaligers Konjektur nicht aus der Luft gegriffen war. Doch was wäre gewesen, wenn das nicht geschehen wäre? Die Krux zumindest wäre keine Lösung. Denn wer liest schon in einem Buch, in dem man dauernd auf kleine Kreuzchen stößt?
Eben diese Frage trifft den crucial point der gegenwärtigen Editionsphilologie, denn sie rückt etwas in den Fokus, das man als 'Politik der Konjektur' bezeichnen könnte. Die Tagung "Konjektur und Krux" will dieser Frage nachgehen, indem sie deren historisch und theoretisch komplexes Wechselverhältnis in den Blick nimmt.

Mit Beiträgen von Anne Bohnenkamp-Renken (Frankfurt), Almuth Grésillon (Paris), Stefan Kammer (Frankfurt/Basel), Ursula Kocher (Berlin), Marcel Lepper (Marbach), Gunter Martens (Hamburg), Nikolaus Müller-Schöll (Bochum), Martin Schubert (Berlin), Robert Stockhammer (ZfL), Sigrid Weigel (ZfL), Daniel Weidner (ZfL), Stefan Willer (ZfL), Irmgard Wirtz (Bern)

Hinweise zur Teilnahme:
Kontakt:
Kai Bremer
Uwe Wirth
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin
Schützenstr. 18
10117 Berlin
030/20192-173
030/20192-154

Termin:

13.07.2007 - 15.07.2007

Veranstaltungsort:

Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin
Schützenstr. 18
3. Etage
Trajekte-Tagungsraum 308
10117 Berlin
Berlin
Deutschland

Zielgruppe:

Wissenschaftler

Relevanz:

überregional

Sachgebiete:

Sprache / Literatur

Arten:

Eintrag:

08.01.2007

Absender:

Susanne Hetzer

Abteilung:

Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZFL)

Veranstaltung ist kostenlos:

ja

Textsprache:

Deutsch

URL dieser Veranstaltung: http://idw-online.de/de/event19120


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