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11.04.2005 11:34

Forschungspreis des Landes Baden-Württemberg geht an Prof. Dr. Herta Flor und Prof. Dr. Josef Wieland

Biljana Bojic Pressestelle
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg

    Der baden-württembergische Wissenschaftsminister Prof. Dr. Peter Frankenberg gab am 11. April die Träger des Landesforschungspreises 2004 bekannt. Mit dieser Auszeichnung, die zum 15. Mal vergeben wird, stellt das Wissenschaftsministerium einmal im Jahr herausragende Forscherinnen und Forscher der Öffentlichkeit vor. Das Preisgeld beträgt je 100.000 Euro für Arbeiten in den Bereichen Grundlagenforschung und angewandte Forschung. Mit dieser Dotierung vergibt das Wissenschaftsministerium das höchste Preisgeld eines Bundeslandes, "ein Beleg dafür, dass Wissenschaft und Forschung in Baden-Württemberg einen Schwerpunkt der Landespolitik bilden", so Frankenberg.
    Den Landesforschungspreis für Grundlagenforschung hat die Psychologin Prof. Dr. Herta Flor vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim erhal-ten. Sie erforscht den Zusammenhang zwischen Gehirn und Psyche. Wie beeinflussen Vorgänge oder Veränderungen im Gehirn das menschliche Erleben und Verhalten? Wandelt sich zum Beispiel das Schmerzempfinden eines Menschen, wenn das Gehirn über bestimmte Reize stimuliert wird? Der Frage, wie Menschen ihr Gehirn selbst so beeinflussen können, dass sich beispielsweise ihr Schmerzempfinden positiv verändert, ist Herta Flor in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen wiederholt nachgegangen. "Das Gehirn - und das ist es, was mich am meisten fasziniert - ist kein starres Gebilde, sondern durch äußere Einflüsse plastisch formbar, und das sogar bis ins hohe Alter", erklärte die Preisträgerin.
    Den Landesforschungspreis für angewandte Forschung erhielt der Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Josef Wieland von der Fachhochschule Konstanz. Er zeigt auf, dass in Unternehmen und Organisationen neben wirtschaftlichem Erfolg auch moralisches Engagement eine Bedingung nachhaltiger Unternehmensentwicklung ist, und beschreibt unter anderem, mit welchen konkreten Maßnahmen ein ethischer Wandel in Unternehmen gefördert werden kann. "Wirtschaftsskandale zeigen, dass es nicht reicht, sich auf formale Kontrollsysteme zu verlassen. Vielmehr müssen informale Steuerungsmechanismen wie Werte und Moral integriert werden", erläuterte Josef Wieland. Aber wie sollen diese Steuerungsmechanismen angelegt sein, und wer setzt sie um? Auf diese Fragen gibt Prof. Wieland, der sich mit dem anwendungsorientierten Aspekt von Ethik befasst, mit seinem Wertemanagementsystem eine Antwort. Das von ihm entwickelte Instrument dient zur Prävention von Wirtschaftskriminalität, mobilisiert Werte in Unternehmen und unterstützt global tätige Konzerne bei der Entwicklung ihrer Unternehmenskultur. Die Größe der Firmen spielt dabei keine Rolle. "Die Auszeichnung von Josef Wieland zeigt zugleich die Bedeutung der Fachhochschulen in Baden-Württemberg bei der Umsetzung hervorragender Forschung in konkrete wirtschaftliche Erfolge", betonte Wissenschaftsminister Frankenberg.
    Mit dem Preisgeld von je 100.000 Euro bietet sich den Forschern die Möglichkeit, ihre wissenschaftlichen Vorhaben weiter voranzutreiben bzw. neue Perspektiven und Handlungsspielräume zu eröffnen. "Die Bedeutung eines Preises hängt wesentlich davon ab, nach welchen Kriterien er vergeben wird. Beim Landesforschungspreis Baden-Württemberg sind die Maßstäbe sehr hoch", so Frankenberg. Vorgeschlagen werden können die Arbeiten von den Universitäten, Fachhochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, wissenschaftlichen Organisationen sowie den Mitgliedern des Auswahlausschusses. Aus welchen Fachrichtungen die Bewerber kommen, spielt dabei keine Rolle. Die Entscheidung über die Preisvergabe trifft eine unabhängige Jury aus 14 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

    Weitere Informationen zum Landesforschungspreis finden Sie unter http://www.mwk.baden-wuerttemberg.de/.

    Weitere Informationen zur Pressemitteilung Nr. 53/2005
    Wertemanagement:
    Von der Sonntagsrede zum Leitfaden für Manager und Politiker

    Wirtschaft und Ethik, diese beiden Begriffe waren lange Zeit in unterschiedlichen Welten zu Hause und wollten nicht so recht zusammenkommen. Die Ökonomen warfen den Philosophen und Theologen vor, keine berechenbaren Ergebnisse zu liefern, und umgekehrt zogen sich die Ethiker oft zurück, da ihre Appelle nicht befolgt wurden. Eine solide Brücke hat der Konstanzer Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Josef Wieland gebaut. Er zeigt auf, wie Ethik den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und Organisationen beeinflusst, und beschreibt, mit welchen konkreten Maßnahmen ein ethischer Wandel vollzogen werden kann. Mit seinen Arbeiten zur Theorie der so genannten "Governance moderner Gesellschaften", die international hohes Renommee genießen, erbringt er den Nachweis, dass wirtschaftlicher Erfolg und moralisches Engagement kein Widerspruch sein müssen, sondern ganz im Gegenteil: dass sich beides als Bedingung nachhaltiger Unternehmensentwicklung erweist.
    Mit seinen wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Ergebnissen unterstützt Wieland global agierende Unternehmen wie BASF oder DaimlerChrysler, aber auch kleine und mittelständische Firmen.

    Mangelnde Ethik - ein unternehmerisches Bestandsrisiko

    Dass Ethik den wirtschaftlichen Erfolg beeinflusst, zeigen Fälle wie Enron in den USA oder EM.TV in Deutschland sowie Korruptionsskandale in der Baubranche. Hier entwickeln sich nicht vorhandene oder unerwünschte Werte bei Führungskräften und Mitarbeitern zum Bestandsrisiko für das Unternehmen. "Die Skandale zeigen auch, dass es nicht reicht, sich auf formale Kontrollsysteme zu verlassen. Vielmehr müssen informale Steuerungsmechanismen wie Werte und Moral integriert werden", erklärt Prof. Wieland. Aber wie sollen diese Steuerungsmechanismen aufgebaut sein, und wer setzt sie um? Auf diese Fragen gibt Prof. Wieland, der sich mit dem anwendungsorientierten Aspekt von Ethik befasst, mit seinem Wertemanagementsystem eine Antwort. Das von ihm entwickelte Instrument dient zur Prävention von Wirtschaftskriminalität, mobilisiert Werte in Unternehmen und unterstützt global tätige Konzerne bei der Entwicklung und Einführung ihrer Unternehmenskultur. Die Größe der Firmen spielt dabei keine Rolle. "Das System ist so entwickelt, dass es in der kleinen Arztpraxis wie auch bei global tätigen Firmen wie BASF oder ABB zur Anwendung kommt", so Josef Wieland.

    Ethik im Praxistest

    "Mit unserem Instrument werden die Werte eines Unternehmens - zum Beispiel Fairness - mit den verschiedenen Ebenen des Managements wie der Strategie, der Organisation, der Kommunikation und dem Controlling verbunden", beschreibt Prof. Wieland sein System. Im ersten Schritt müssen daher zunächst die Werte, welche die Identität eines Unternehmens prägen, festgelegt werden. Der Grundwertekatalog ist eine Art Visitenkarte der Firma. "Die hier beschriebenen Verhaltensstandards stellen keinen Ist-Zustand dar, sondern sie bestimmen, wie in Konfliktsituationen entschieden werden sollte", erläutert Wieland.
    Im zweiten Schritt muss die Geschäftsführung die Werte im Alltag mit Leben erfüllen. Folgende Fragen sind hier beispielsweise von Bedeutung: Spielen Verhaltensstandards eine Rolle bei der Auswahl von Mitarbeitern? Sind sie Kriterium bei der Beförderung von Mitarbeitern? Sind sie relevant bei der Auswahl und Bewertung von Lieferanten? Existieren operationale Entscheidungskriterien für Fragen wie Menschenrechte, Umweltschutz, Kinderarbeit etc., die über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen oder eine Investition in einem bestimmten Teil der Erde mitentscheiden? "Individuelle Moral muss durch Organisation gestützt werden. Werte können ein Positivsummenspiel sein, wenn sie integrierter Bestandteil eines systematischen Managements sind", so Josef Wieland.
    Das Wertemanagementsystem liefert dazu Leitlinien, Kriterien, Checklisten und Beispiele. Anhand konkreter Bausteine wird gezeigt, wie sich das System Schritt für Schritt aufbaut. Angefangen mit Hinweisen, was bei der Formulierung eines Leitbildes berücksichtigt werden muss, über Angaben dazu, welchen Personalaufwand die Umsetzung des Systems benötigt. "Unternehmen mit bis zu 1000 Mitarbeitern sollten einen Projektbeauftragten für mindestens ein Jahr bestimmen, der die operative Leitung übernimmt", erklärt Wieland. "Er unterstützt die Formulierung der Leitlinien des Top-Managements, setzt Trainingsmaßnahmen um und steuert die Kommunikation sowie die Evaluation."
    Im Bereich der internen Unternehmenskommunikation sollten die Werte über unterschiedliche Wege publiziert werden, zum Beispiel über die Mitarbeiterzeitung, das Mitarbeitergespräch und den Arbeitsvertrag. Aber auch bei der nach außen gerichteten Kommunikation, die beispielsweise über die Pressearbeit oder den Geschäftsbericht erfolgt, ist die Einbeziehung der Werte wichtig. Je nach Charakter des Unternehmens kann das Wertemanagementsystem in bestimmten Teilbereichen, zum Beispiel im Risikomanagement, im Personalmanagement, im Qualitätsmanagement oder im Corporate Citizenship, ein besonderes Gewicht bekommen.

    Das Lernen neuer Regeln für den Umgang mit Ethik

    "Wer das Wertemanagementsystem betreibt, beginnt einen permanenten Entwicklungsprozess, der nicht auf das Gute, sondern sukzessive auf das Bessere zielt", betont Josef Wieland. "Es geht nicht darum, Ethik zu verordnen. Das Problem ist, dass man bei den Begriffen Ethik und Moral leicht ins Schwimmen gerät, wenn man sie in der Praxis anwendet. Deshalb kommt man nur weiter, wenn man lernt, Regeln zu finden, um mit Ethik umzugehen." Das Wertemanagementsystem leistet dazu einen wichtigen Beitrag und bildet eine wertvolle Hilfestellung für Unternehmen.
    Seine Erkenntnisse bringt Josef Wieland als wissenschaftlicher Berater bei der Initiative Freiheit und Verantwortung1 ein. Auf internationaler Ebene leitet er eine Task-Group der internationalen Vereinigung der Standardisierungsgremien (ISO), die einen DIN-Standard zur Corporate Social Responsibility erarbeiten soll. Die darin enthaltenen Leitlinien sollen die Beachtung vorhandener Grundsätze stärken und zu einer nachhaltigen Entwicklung auf dem Gebiet der sozialen Verantwortung beitragen. Der Ausschuss begleitet die Arbeiten des entsprechenden Gremiums bei der ISO und bringt die deutsche Position in die internationale Arbeit ein.

    Unternehmensethik als Bestandteil der Governance moderner Gesellschaften

    Das anwendungsorientierte Wertemanagementsystem ist in die Theorie der Governance moderner Gesellschaften eingebettet. Diese Theorie beschreibt, über welche Spielregeln moderne Gesellschaften gesteuert werden. Zu diesen Spielregeln gehören beispielsweise Gesetze, die Kultur einer Gesellschaft oder eines Unternehmens, aber auch die persönlichen Werte von Individuen. Beim Wertemanagementsystem liegt der Fokus auf den Selbststeuerungsmechanismen in der Wirtschaft.
    Die Theorie der Governance moderner Gesellschaften wurde von Josef Wieland innerhalb der vergangenen 15 Jahre entwickelt und ist eine der führenden Theorien der wirtschafts- und unternehmensethischen Diskussion. Ihre Entwicklung wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie durch das Landesforschungsprogramm Baden-Württemberg "Innovative Projekte" gefördert. Seit 2003 treffen sich jährlich führende Wirtschafts- und Unternehmensethiker verschiedener europäischer Hochschulen, um in Konstanz über Wirtschafts- und Unternehmensethik und die Ergebnisse von Josef Wieland zu diskutieren. Die Veranstaltungen werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragen.

    (6.548 Textzeichen)

    1Die Initiative Freiheit und Verantwortung wurde durch die Spitzenverbände der Wirtschaft, den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesverei-nigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und den Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) sowie die WirtschaftsWoche im Jahr 2000 unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Johannes Rau begründet.

    Rückfragen für die Redaktion:
    Sympra GmbH (GPRA)
    Nicole Steiger
    Stafflenbergstraße 32
    70184 Stuttgart

    Tel. 0711/9 47 67 - 0
    Fax 0711/9 47 67 87
    E-Mail nicole.steiger@sympra.de

    Weitere Informationen zu den Arbeiten von Prof. Wieland:
    www.kiem.fh-konstanz.de

    Glossar:

    Ethik: Lehre vom richtigen (guten, gerechten, angemessenen) Handeln. Reflexi-onstheorie der Moral, also der in einer Gesellschaft üblichen Verhaltensstan-dards.

    Corporate Governance: Führung, Management und Kontrolle eines Unterneh-mens. In einem engen Sinn bezeichnet CG die Kontrolle des Managements durch den Aufsichtsrat. In einem weiten Sinn bezeichnet CG die in ökonomi-scher, sozialer und ökologischer Hinsicht verantwortungsvolle Führung eines Un-ternehmens. Grundsätze sind national je in einem Corporate Governance Codex niedergelegt.

    Corporate Citizenship: die Rechte und Pflichten eines Unternehmens als Mit-glied einer Gesellschaft. In Deutschland wird darunter das "bürgerschaftliche En-gagement" der Unternehmen in ihrem Umfeld oder ihrer Region verstanden. Die Initiative "Freiheit und Verantwortung" des BDI/BDA sind in diesem Zusammen-hang zu sehen.

    Corporate Social Responsibility: das nationale und globale soziale Engage-ment von Unternehmen, das über die Anforderungen des gesetzlichen Rahmens hinausgeht und durch ein systematisches Managementsystem im Geschäftsall-tag umgesetzt wird. Gegenwärtig von der Kommission (EU) stark gefördert im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Union (Sozialstandards) und dem Lissabon-Prozess (Europa als führendes Wirtschaftszentrum)

    Weitere Informationen zur Pressemitteilung Nr. 53/2005

    Mit Training gegen Schmerzen und posttraumatische Belastungsstörungen:
    Unsere Hirn-Hardware - veränderbar bis ins hohe Alter



    Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Organ des Menschen. Es ist die Schalt- und Steuerzentrale unseres Körpers. Hier laufen sämtliche Reizinformationen aus Organismus und Umwelt zusammen und werden zu Reaktionen verarbeitet. Ein aktiveres Organ gibt es nicht. Dabei ist die "Hardware" Gehirn durchaus veränderbar. Die Psychologin Prof. Dr. Herta Flor hat herausgefunden, dass der menschliche Denkapparat sogar bis ins hohe Alter formbar ist und sich vor allem gezielt trainieren lässt.
    Am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim untersucht die Forscherin den Zusammenhang zwischen Gehirn und Psyche. Wie beeinflussen Vorgänge oder Veränderungen im Gehirn das menschliche Erleben und Verhalten? Wandelt sich zum Beispiel das Schmerzempfinden eines Menschen, wenn das Gehirn über bestimmte Reize stimuliert wird? Es ist genau diese Konstellation aus Hirnforschung, Verhaltensforschung und Psychologie, die Herta Flor seit Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere fasziniert, weil darin ein enormes Potenzial an neuen Heilungsmethoden steckt. Für ihre Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Schmerz- und Gehirnforschung hat die Psychologin jetzt den Landesforschungspreis 2004 erhalten.

    Wo tut es weh?

    Lange Zeit stand die Medizin hilflos vor dem hochkomplexen Phänomen des Schmerzempfindens. Denn Schmerz lässt sich nur sehr schwer messen, da jeder Mensch Schmerzen anders wahrnimmt. Nach der Annahme, wonach jedes Symptom 1:1 auf körperliche Ursachen zurückzuführen sei, lautete das Urteil vieler Ärzte lange Zeit schlicht: Je schlimmer die Schädigung, desto stärker der Schmerz. Doch das trifft allenfalls für akute Schmerzen zu. Nicht berücksichtigt sind in dieser Rechnung Patienten, die über chronische Schmerzen klagen oder darüber, dass es ihnen in Körperteilen weh tut, die gar nicht mehr da sind. Auch Herta Flor wollte sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben: "Wenn nach einer Amputation das fehlende Glied plötzlich anfängt, stechend zu hämmern, muss hinter dem Phantomschmerz etwas anderes stecken, als ein einfaches Reizreaktionsschema. Ich war mir sicher: Wenn der amputierte Arm Schmerzimpulse meldet, kann es keine körperliche Ursache für den Schmerz geben, dann spielt sich der Reiz vielmehr im Gehirn ab. Und diesem im Kopf plötzlich entstehenden Phantombild wollte ich auf den Grund gehen."

    Den Schmerz sichtbar machen

    Entscheidende Impulse erhielt Prof. Flor von der "Tübinger Schule" der Psychologie, die bereits in den 60er- und 70er-Jahren die Selbstregulationskräfte des Gehirns untersuchte. Bio- oder Neurofeedback heißt der Zweig der Neurowissenschaft, der mit Hilfe von computergestützten Messungen die unbewusst ablaufenden Bio- und Nervensignale unseres Körpers registriert. Grafisch oder akustisch aufgezeichnet, tauchen die Signale aus den tieferen Schichten unseres Bewusstseins auf und gelangen in einen Bereich, der über unseren Willen steuerbar ist. Über einen Monitor kann der Patient seine Schmerzsignale genau verfolgen und über gezielte Trainingsmethoden willentlich kontrollieren. Schmerz ließe sich auf diese Weise ganz einfach wegtrainieren. Wie Menschen ihr Gehirn selbst so beeinflussen können, dass sich beispielsweise ihr Schmerzempfinden positiv verändert, diese Frage hat die Psychologin und Schmerzforscherin Herta Flor in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder verfolgt. "Das Gehirn - und das ist es, was mich am meisten fasziniert - ist kein starres Gebilde, sondern durch äußere Einflüsse plastisch formbar und das sogar bis ins hohe Alter." Plastizität sagen Mediziner zu diesen Umbauprozessen in der Architektur der Hirnrinde. Über bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) konnte die Psychologin beispielsweise nachweisen, dass sich nach einer Amputation die Repräsentation eines Körperteils im Gehirn verändert. Für diese lokale Verschiebung im Gehirn ist die Großhirnrinde verantwortlich. Hier, in der so genannten Tastrinde, kommen die Nervenimpulse der gesamten Körperoberfläche an. Dabei ist für jedes Körperteil ein eigenes Gehirnareal zuständig. Denn im Gehirn ist der ganze Körper des Menschen noch einmal im Miniaturformat gespiegelt; im Fachjargon sprechen die Mediziner vom Homunkulus, lateinisch "kleiner Mensch".
    "Man muss sich die schmerzverarbeitenden Teile des menschlichen Gehirns wie eine Landkarte von unserem Körper vorstellen", erklärt die Expertin Herta Flor, "nur dass die Körperkontinente spiegelverkehrt angeordnet sind: Signale aus der linken Körperhälfte werden in der rechten Hirnhälfte verarbeitet, Nervenimpulse von rechts kommen im Gehirn links an." Das verkleinerte Spiegelbild Mensch entspricht aber nicht der tatsächlichen Anatomie, sondern der menschlichen Sinneswahrnehmung. Hochempfindliche Körperteile wie Mund oder Fingerspitzen, die mehr Nervenimpulse empfangen, nehmen in der Körperkarte des Gehirns auch ungleich mehr Platz ein als beispielsweise Rücken oder Oberarm.

    Chaos im Gehirn

    Durch Verletzungen oder äußere Stimulation verändert sich die Körperkarte des Gehirns. Bislang kleine Hirnareale können unter starker und lang anhaltender Schmerzeinwirkung beispielsweise überdimensional anschwellen oder sich in benachbarte Regionen verlagern. Wird einem Patienten nach einem Unfall der Arm abgenommen, organisieren sich die reizverarbeitenden Areale aufgrund der Plastizität des menschlichen Gehirns neu. Die Hirnregion, die im Normalfall Nervenimpulse vom Arm empfängt, verschiebt sich zum Beispiel in das benachbarte Areal des Mundes. "Die über Jahre gelernte Verbindung Arm zu Gehirn bleibt auch nach der Amputation bestehen. Ist der Arm weg, empfängt das dafür zuständige Gehirnareal auch weiterhin Impulse, nun aber aus der Nachbarschaft. Die Signale werden jedoch nach wie vor anscheinend in dem Körperteil wahrgenommen, das ursprünglich mit dem Gehirnareal verbunden war, also im amputierten Arm", erklärt Prof. Flor das Phänomen der Phantomschmerzen. Auch bei Patienten, die beispielsweise unter chronischen Gesichtsschmerzen (Trigeminus-Neuralgie) leiden, hat sich die Hirnregion unter den anhaltenden Schmerzen so vergrößert und mit Nervenzellen verdichtet, dass schon kleine Berührungen ausreichen, um ein erneutes Schmerzgewitter auszulösen. Das Gehirn verändert sich aber nicht nur durch Schmerzen und Verletzungen, sondern auch - und das ist für neue Therapieformen ganz entscheidend - durch Lernprozesse und Stimulation. "Wir konnten beispielsweise feststellen, dass bei Schlaganfall-Patienten durch ein gezieltes Armtraining neue Areale des Gehirns aktiviert werden können."

    Eine gemeinsame Sprache finden

    Aus diesen Beobachtungen schloss die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Herta Flor, dass die physiologische Karte des Gehirns über Trainingsmethoden gezielt verändert werden kann. Krankhaft vergrößerte Gehirnpartien, die Schmerz auslösen, weil in ihnen ein dichtes Netzwerk aus Nervenzellen aktiv ist, können aber durch Lernprozesse wieder reorganisiert werden. Das öffnet die Tür zu einer ganz neuen Form der Zusammenarbeit zwischen Psychotherapie, Neurowissenschaft und Molekularbiologie. "Wir müssen die genetischen, molekularbiologischen, neurowissenschaftlichen Grundlagen kennen, um das Phänomen der Veränderbarkeit und Trainierbarkeit des Gehirns auch wirklich zu verstehen", beschreibt Herta Flor die Notwendigkeit einer neuen gemeinsamen Sprache zwischen den Disziplinen. "In solchen fächerübergreifenden Kompetenznetzwerken liegt ein immenses Potenzial zur Behandlung von Schmerzen, Angststörungen oder Depressionen."

    Ordnung schaffen durch Training

    Selbst nach einem Schlaganfall besteht durch intensive Lernmethoden die Chance, ausgefallene Körperfunktionen wieder zu mobilisieren. Das kann zum Beispiel dadurch passieren, dass der gesunde Arm in einer Schlinge lahm gelegt wird, während der eigentlich nicht mehr funktionsfähige Arm gezwungen wird, sich zu bewegen. "Das Interessante an unseren Forschungsergebnissen war, dass sich sogar bei hochbetagten Schlaganfallpatienten, bei denen der Schlaganfall schon Jahre zurückliegt, das Gehirn noch trainieren lässt", erzählt Herta Flor von den Versuchen mit dieser Patientengruppe. "Wir konnten beispielsweise zeigen, dass nach der Trainingsphase die Aktivität der ausgefallenen Hirnregion in die andere Hirnhälfte hinüberwandert. Hier werden plötzlich Nervenbahnen aktiviert, die das eigentlich abgestorbene Gehirnareal kompensieren."
    Therapeutisch müssen dabei Teile der Hirn-Hardware neu programmiert werden, um über Jahre erlernte Muster wieder wegzutrainieren, das heißt zu "verlernen". Bei chronischen Erkrankungen wie chronisch störenden Ohrgeräusche (Tinnitus) wird beispielsweise versucht, das von den Nervenzellen entwickelte Gedächtnis über Trainingsverfahren wieder vergessen zu machen. Für die moderne Gehirnforschung sind diese Erkenntnisse revolutionär: Denn es sind nicht allein Psychopharmaka und Pillen, die uns wieder auf die Füße helfen, entscheidend ist in erster Linie unser Lern- und Trainingswille.
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    Glossar:

    Funktionale Magnetresonanz-Tomografie (fmRT)
    Die fmRT ist ein bildgebendes Verfahren, über das gezielt bestimmte Gehirnstrukturen bei der Arbeit beobachtet werden können. Gemessen wird die erhöhte Suaerstoffversorgung infolge einer gesteigerten Durchblutung. Die fmRT-Methode kann dadurch funktionelle Abläufe im Gehirngewebe in Form von Schnittbilderserien darstellen.

    Homunculus
    In der Anatomie des Gehirns werden Repräsentationen von Körperteilen als sensorischer Homunculus bzw. motorischer Homunculus verstanden. Für alle sensiblen und motorischen Bahnen gibt es eine Punkt-zu-Punkt-Zuordnung zwischen der Köperperipherie und dem Gehirn. Diese Projektionen vom Körper auf das Gehirn entspricht den sensorischen und motorischen Rindenfeldern. Für besonders feinsensible oder feinmotorische Körperabschnitte (z. B. Finger) stehen recht große Rindenareale zur Verfügung. Weniger schmerzempfindliche Körperteile (z.B. Bauch) haben nur relativ kleine Rindenfelder.

    Plastizität
    Der Begriff bezeichnet in der Neurowissenschaft die Veränderbarkeit und Formbarkeit des menschlichen Gehirns. Neuronale oder synaptische Plastizität umschreibt in der Hirnforschung die Verbindung zwischen den Nervenzellen. Unter Schmerzeinwirkung oder Training verdichtet sich das Netz an Nervenzellen im Gehirn und das entsprechende Areal vergrößert sich.

    Trigeminusneuralgie
    Die Trigeminusneuralgie führt zu Gesichtsschmerzen und ist eine schmerzhafte Erkrankung des gleichnamigen Nerven, des Nervus trigeminus, an seinem Austrittsgebiet aus dem Hirnstamm. Dieser Nerv übermittelt normalerweise Empfindungen im Bereich des Gesichts direkt in das Gehirn und wird daher auch Hirnnerv genannt. Neuralgie bedeutet, dass heftige, meist einseitige Nervenschmerzen im Bereich der Kaumuskulatur, der Lippen, Zunge oder Wangen auftreten.

    Tinnitus
    Tinnitus (lat. tinnire = klingeln, laut singen) ist der medizinische Ausdruck für Ohrgeräusche oder Ohrsausen. Die pfeifenden Ohrgeräusche gehen auf Umstrukturierungen der Nervenzellen im Hörzentrum des Gehirns zurück. Mediziner unterscheiden zwischen objektiven und subjektiven Ohrgeräuschen; Töne, die messbar sind und solche, die nur der Patient wahrnimmt. Lärmschäden, Stress, Gefäß- oder Muskelerkrankungen sind die häufigsten Auslöser für Tinnitus.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Politik, Psychologie, Recht, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsprojekte, Personalia
    Deutsch


     

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