AUS DER MEDIZIN FÜR DIE MEDIEN Nr. 10 1999
Die größte Sorge vieler Patienten vor einer Operation gilt der Narkose. Die Ausschaltung des Bewußtseins weckt Ängste, die durch den Gedanken an einen möglichen Narkosezwischenfall noch verschärft werden können. Tatsächlich kann sich in der Anästhesie aus geringfügigen Fehlern oder Unterlassungen eine kritische Situation entwickeln. Nicht selten entsteht ein Zwischenfall erst dadurch, daß der Faktor "Mensch" ins Spiel kommt. Kommunikationsfehler und unangemessene Verhaltensmuster des Anästhesisten in Stressituationen können den Verlauf von Narkose und Operation erheblich beeinflussen, selbst wenn der Anästhesist das medizinisch-technische Rüstzeug seines Berufs beherrscht. Umgekehrt kann Stressbewältigung geübt und erlernt werden.
Die Charité bedient sich dazu jetzt - ähnlich dem Stresstrainung von Flugzeugpiloten oder Rennfahrern - eines Simulators. In der "Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin" kann situationsecht in einem komplett ausgerüsteten Operationssaal an einer Puppe eine Narkose unter Stressbedingungen ausgeführt werden. Die Puppe, groß wie ein Mensch, liegt als "Patient" auf dem Operationstisch. Sie ist die Hardware eines rechnergestützten Simulators (EAGLE) und hat die Anatomie des Menschen mit Mund, Kehlkopf, Speiseröhre und Lungen. Sie kann spontan atmen oder auch wie in einer Narkose kontrolliert beatmet werden. Dabei können auch Mechanismen, die eine Narkose erschweren, wie Zungenschwellung oder Kehlkopfspasmus simuliert werden, ein Luftröhrenschnitt kann ausgeführt werden und die Punktion von Gefäßen mit Anlegen von Infusionen ist möglich. Herz- und Atemgeräusche sind mit dem Stethoskop zu hören, Pulse zu fühlen und in den Atemgasen sind Kohlendioxyd, Sauerstoff und auch Narkosegase meßbar. Die Puppe antwortet auf Ansprache, kann ihre Augen öffnen und schließen, und ihre Pupillen erweitern oder verengen sich. Ihr Körper reagiert auf alle zugeführten Medikamente wie ein Patient, beispielsweise mit Veränderungen von Blutdruck oder Herzschlag. Sogar bluten kann sie während der Operation.
Sie läßt sich so programmieren, daß fast alle denkbaren Zwischenfälle einer Narkose eintreten und die Anpassung an alle vorstellbaren Probleme in Echt-Zeit geübt werden können. Der Narkosearzt, der sich dem Stresstraining unterzieht, sieht sich einem Team gegenüber, das vor Beginn der "Operation" entschieden hat, welche Zwischenfälle in welchen Schwierigkeitsgraden mit dem "Trainee" geübt werden sollen.
In der Übungssituation findet sich eine junge Narkoseärztin im typischen Umfeld des Operationssaals mit steril gekleideten Operateur und Assistenten, mit OP-Schwester und Anästhesiepfleger. Sie beginnt die Narkose bei dem "Patienten", dem ein Nierentumor entfernt werden soll. Das Stresspotential wird von der Computersoftware des Simulators im Nebenraum gesteuert. Über Kopfhörer ist das OP-Team miteinander vernetzt, mit Ausnahme des Trainee. Dann beginnt der Stress-Parcours etwa mit Störmanoevern, die alle darauf gerichtet sind, den Anästhesisten zu irritieren. Der Sinn der Übung liegt darin, den Narkosearzt darauf zu trainieren, Unwichtiges von Wichtigem im Umfeld seiner direkten Aufgaben zu unterscheiden und seine Aufmerksamkeit auf das Dringliche zu konzentrieren.
Auch soll er geschult werden, in Situationen, die für ihn kritisch sind, die Kommunikation mit der Umgebung selbst zu lenken, und sich nicht von anderen Anwesenden Dinge aufzwingen zu lassen, die seiner zentralen Aufgabe entgegenstünden. Die Dramatik der simulierten Situation kann dabei graduell gesteigert werden. Als Stressfaktoren dient vielerlei: Laute Hintergrundmusik im Operationssaal, ablenkende, belanglose Gespräche, plötzliche Telefonanrufe vom Chef, akute gesundheitliche Komplikationen beim "Patienten" oder kritische Äußerungen von Vorgesetzten zum absichtlich falschen Zeitpunkt. Die Belastung für die Nervenstärke der Testperson kann schließlich auch durch externe Einflüsse gesteigert werden: Der Strom fällt aus, die Notstromaggregate setzen nicht sofort ein. Oder die Sauerstofflasche ist plötzlich leer, die Ersatzflasche steht nicht an ihrem Platz..
Das Video von der gesamten Übungsphase wird anschließend besprochen und die Test-Ärztin entwickelt "ihr" Krisenprogramm für die Zukunft:
"Ich werde mir überlegen, wie ich in komplizierten Situationen ein eingehendes Telefongespräch mit dem Chef abkürze oder um Verschiebung auf später bitte. Ich werde darüber nachdenken, wie ich erreiche, daß der Lärmpegel im OP möglichst niedrig bleibt und mich bemühen, die fachliche Kommunikation mit meinen chirurgischen Kollegen zu verbessern"...
Zusehen und das Begleit-Video auswerten, kann jeweils eine Gruppe von 8 bis 10 Ärzten, die im Vorraum oder direkt im Operationssaal das Training verfolgen. Das OP-Team hat sich in seiner Freizeit zu dieser Fort- und Weiterbildungsinitiative zusammengefunden. Interessenten für ein Training am Simulator können einen Termin mit der Klinik absprechen (Tel.: [030] - 2802-2808). Der Andrang ist groß. Genutzt wird der gemietete EAGLE (Kaufpreis rund 600 000 Dollar) nicht nur von Ärzten in Aus- und Weiterbildung, sondern auch von Pflegekräften, Studenten und von der Industrie.
Silvia Schattenfroh
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Charité
Medizinische Fakultät der
Humboldt Universität zu Berlin
Dekanat
Pressereferat-Forschung
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FON: (030) 2802-2223
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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