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03.05.2005 11:03

Vom Umgang mit unserer Vergangenheit

Stefanie Hahn Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Prof. Norbert Frei übernimmt Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Univeristät Jena

    Jena (03.05.05) Bis heute gehen in Deutschland die Meinungen darüber auseinander, was den Deutschen am 8. Mai 1945 widerfahren ist. Schien zumindest in der "alten" Bundesrepublik seit den achtziger Jahren die Auffassung durchgesetzt, dass es sich um eine Befreiung vom Nationalsozialismus gehandelt habe, so ist die Debatte inzwischen - vor allem im Lichte der ostdeutschen Erfahrungen - wieder in Bewegung geraten. Wie wir Deutschen die NS-Zeit erinnern, wie wir die Vergangenheit verarbeitet haben und noch verarbeiten und wie wir heute der Ereignisse gedenken - all dies gehört zu den Forschungsthemen von Prof. Dr. Norbert Frei. Der 50-jährige Historiker ist als Nachfolger von Prof. Dr. Lutz Niethammer zum Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ernannt worden.

    Norbert Frei wollte eigentlich Journalist werden. Dieser Weg schien nach der Aufnahme an der Deutschen Journalistenschule in München 1973 vorgezeichnet. Doch parallel zur Redakteursausbildung begann er Geschichts-, Politik- und Kommunikationswissenschaft zu studieren. Animiert durch ein Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte, promovierte er 1979 über die nationalsozialistische "Gleichschaltung" der bayrischen Provinzpresse. Seitdem hat ihn die Wissenschaft nicht mehr losgelassen. Geblieben ist jedoch eine Affinität zu mediengeschichtlichen Themen und zu Fragen der medialen Vermittlung von Geschichte. "Ich halte die Medien nicht nur als Quellen für wichtig, sondern auch als Faktor unserer gesellschaftlichen Realitätsaneignung", sagt Frei. Die Flut von Publikationen und Dokumentationen zum 60. Jahrestag des Kriegsendes ist für ihn Ausdruck einer intensiven und insgesamt anspruchsvollen Auseinandersetzung mit Geschichte.

    Dass dabei mehr als je zuvor "letzte Zeitzeugen" zu Wort kommen, erklärt er mit dem "Abschied von den Zeitgenossen der NS-Zeit". Der Wissenschaftler warnt jedoch: "Geschichte geht nicht in Geschichten auf." Die Perspektive des Einzelnen sei zwangsläufig beschränkt. In seinem jüngsten Buch "1945 und wir" gibt er dafür ein Beispiel: Noch heute werde die Schlacht um Stalingrad von den meisten als Wende des Krieges wahrgenommen. "Aus militärstrategischer Sicht hatte diese schon bedeutend früher eingesetzt", sagt Frei. Für diese Fehlwahrnehmung sei zum einen die NS-Propaganda verantwortlich gewesen, zum anderen aber auch die sozialpsychische Disposition der "Volksgemeinschaft". Auch solchen kollektiven Mythenbildungen geht Frei nach. In seiner Habilitation (1995) an der Universität Bielefeld setzte er sich damit auseinander, wie die junge Bundesrepublik mit ihrer NS-Vergangenheit umging. Die unter dem Titel "Vergangenheitspolitik" erschienene Studie war mit vier Auflagen (davon zwei im Taschenbuch) ähnlich erfolgreich wie seine in acht Sprachen übersetzte Darstellung "Der Führerstaat".

    Der von Frei geprägte Begriff der "Vergangenheitspolitik" zielt auf eine lange ignorierte innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik zu Beginn der 1950er Jahre: Die fast vollständige Reintegration ehemaliger Parteigenossen und nationalsozialistischer Straftäter. "Später dann hat die DDR der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Westdeutschland auf die Sprünge geholfen, indem sie immer wieder auf die Altnazis in der Bonner Politik und im Justizapparat hinwies", erläutert Frei. Es sei jedoch eine Ironie der Geschichte, dass die Skandalisierung der personalpolitischen Kontinuitäten im Konkurrenzstaat die eigene Geschichtsaufarbeitung im Osten eher behinderte.

    Dass er nun durch seinen neuen Lehrstuhl an der Jenaer Universität auch räumlich näher an die Geschichtswahrnehmung im Osten Deutschlands und Europas heranrückt, kommt dem Zeithistoriker sehr gelegen. So packte er die Gelegenheit beim Schopfe und bietet gemeinsam mit dem Gastprofessor des Historischen Instituts, Wlodzimierz Borodziej aus Warschau, ein Hauptseminar zu "Flucht und Vertreibung 1945" an. "Dass wir die Möglichkeit haben, uns von beiden Seiten diesem kritischen Thema zu nähern, ist phantastisch", sagt Frei. Chancen wie diese und der exzellente Ruf von Niethammers Lehrstuhl haben den in vielen Gremien und Kommissionen engagierten Historiker bewogen, nach acht Jahren von der Ruhr-Universität Bochum nach Jena zu wechseln. Hier will er sich, über eine Reihe laufender Drittmittel-Projekte hinaus (u. a. zur "Praxis der Wiedergutmachung") neue Themenfelder erschließen. Auch die Nähe des Historischen Instituts zum Botanischen Garten wertet der Wissenschaftler, der in seiner Freizeit gerne im Garten arbeitet, als Glücksfall: "Über dem Wühlen in einem Quadratmeter Erde kann ich alles vergessen." Ein unerlässlicher Ausgleich für jemanden, der hauptberuflich gegen das Vergessen arbeitet.

    Kontakt:
    Prof. Dr. Norbert Frei
    Historisches Institut der Universität Jena
    Fürstengraben 13, 07743 Jena
    Tel.: 03641 / 944450
    E-Mail: sekretariat.frei@uni-jena.de


    Bilder

    Prof. Dr. Norbert Frei
    Prof. Dr. Norbert Frei
    Foto: Scheere/Fotozentrum Uni Jena
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Personalia
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Norbert Frei


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