Wissenschaftlerteam aus Jena und Halle ermittelte Schicksale von NS-Opfern
Jena (13.05.05) Bei ihrer intensiven und verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist die Friedrich-Schiller-Universität Jena jetzt einen weiteren Schritt voran gekommen. Ein Team von Medizinern und Historikern aus Jena und Halle hat nach nur einjähriger Forschung weitgehend die Herkunft von Leichnamen geklärt, die das Anatomische Institut in der NS-Zeit erhalten hat. "Wir sind bei unseren Forschungen auf erschreckende Schicksale gestoßen", sagt der Direktor des Instituts für Anatomie I der Jenaer Universität Prof. Dr. Dr. Christoph Redies. Die Ergebnisse zeigen, so die vier beteiligten Wissenschaftler unisono, "wie schnell in einem Staat, in dem Menschenrechte keine Rolle spielten, die Würde der Toten auch an Anatomischen Instituten verletzt wurden". Um so etwas auszuschließen, werden heutzutage in Deutschland nur Körper Verstorbener überführt, die zu Lebzeiten ihren Körper freiwillig, unentgeltlich und testamentarisch der anatomischen Lehre und Forschung zur Verfügung gestellt haben.
Insgesamt 2.224 Leichname sind in den Jahren von 1933-1945 an das Anatomische Institut der Universität Jena gekommen. Darunter befanden sich ca. 200 Leichname von Hingerichteten. Obwohl die Anatomie auch vor 1933 die Leichname von zum Tode Verurteilten erhielt, so stieg dieser Anteil ab 1942 deutlich, haben die Forscher ermittelt. Die Zuweisungen an die 26 anatomischen Institute der Universitäten in Deutschland und Österreich war 1938 staatlich geregelt worden. Nach Jena kamen Opfer vom Vollstreckungsort für Thüringen in Weimar. Von April bis September 1943 wurden Leichname auch aus Halle nach Jena geschafft. Zu den Hingerichteten zählten z. B. kommunistische Widerstandskämpfer sowie viele Personen, die aufgrund der Notlage der Bevölkerung geringfügige Delikte begangen hatten. Auch die Leichname zweier Flüchtlinge aus dem Konzentrationslager Buchenwald, aber auch deren Bewacher gelangten in die Jenaer Anatomie. Unter den Hingerichteten, so haben die Wissenschaftler ermittelt, muss daher eine große Anzahl von Menschen "als Opfer der NS-Justiz" bezeichnet werden. Ferner befanden sich unter den ebenfalls rd. 200 Leichnamen, die aus den staatlichen thüringischen Heilanstalten in Stadtroda, Blankenhain und aus dem Anna-Luisen-Stift Bad Blankenburg kamen, sehr wahrscheinlich Opfer von "Euthanasie"-Verbrechen. Auch einige Leichname von Zwangsarbeitern wurden an die Jenaer Anatomie überstellt.
Die Leichname der Anatomischen Institute wurden üblicherweise eingeäschert. Da allerdings die Hinweise auf die Bestattungsstelle fehlen, kann nicht mehr geklärt werden, ob und wo die Leichname der Hingerichteten begraben wurden. In etwa 20 Fällen, ermittelten die Forscher, sind auch an solchen Leichnamen Präparationen durchgeführt worden. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist es aber unwahrscheinlich, dass sich eines dieser Präparate noch in der Jenaer anatomischen Sammlung befindet. "Weder auf der Grundlage der Sammlungsverzeichnisse noch auf der Grundlage der Zeugenbefragung gibt es einen konkreten Verdacht für einen Zusammenhang von Sammlungsobjekten mit dem Unrechtskontext des Nationalsozialismus", heißt es im Abschlussbericht der Wissenschaftler. Leider ist eine ähnliche Aufklärung der Herkunft der Präparate in der großen und vollständig anonymisierten Knochensammlung und in der Sammlung histologischer Präparate nicht möglich, da die Herkunft einzelner Präparate nicht nachvollzogen werden kann.
Dass dem Wissenschaftlerteam die Aufklärung vieler Schicksale der Hingerichteten überhaupt gelang, ist auf intensive Forschungen zurückzuführen, die Quellenstudien ebenso einschloss wie Zeitzeugenbefragungen. Das wichtigste Dokument, das Leicheneingangsbuch der Jahre 1914-1949, ist nach Berichten eines Zeitzeugen nach dem Krieg von nicht näher zu identifizierenden "Kontrollorganen" durchgesehen worden. Dabei wurden alle Hingerichteten mit rotem Stift markiert. "Die sonst üblichen zusätzlichen Aktenbündel, die am Institut zu allen übernommenen Leichen aufbewahrt werden, fehlen für sämtliche Hingerichtete der Jahre 1940 bis 1945", hat Prof. Redies erfahren. Ob und welche sterblichen Überreste Hingerichteter im Rahmen dieser mutmaßlichen Säuberungsaktionen aus dem Institut entfernt wurden, ist nicht nachweisbar.
Aufgrund der derzeitigen Quellenlage ist eine noch detailliertere Erforschung von Herkunft und Verbleib der Leichname kaum möglich. Doch um die Erinnerung zu bewahren, handeln die Jenaer Anatomen in verschiedenen Formen. So wird noch in diesem Monat im Foyer des Anatomie-Instituts eine Gedenktafel angebracht. Außerdem wird während der diesjährigen Gedenkfeier für die Körperspender auch der NS-Opfer gedacht, deren Körper in die Anatomie gelangten. Die öffentliche Gedenkfeier findet am 25. Mai um 15.00 Uhr in der Jenaer Friedenskirche statt. Um die Ergebnisse der interessierten Öffentlichkeit näher zu bringen, hält Prof. Redies außerdem einen Vortrag "Über die Herkunft der Leichname für das Anatomische Institut der Universität Jena". Der Anatom spricht in Jena am 23. Mai um 16.15 Uhr im Großen Hörsaal am Eichplatz und in Halle während des Internationalen Symposiums "Anatomie und Anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert", das vom 26.-28. Mai stattfindet.
Darüber hinaus sind die Forschungsergebnisse von der internationalen anatomischen Fachzeitschrift "Anatomical Record Part B: The New Anatomist" zur Veröffentlichung angenommen worden und werden dort in der Juli-Ausgabe erscheinen. Der vollständige deutschsprachige Bericht ist zudem im Internet verfügbar unter: http://www.med.uni-jena.de/anatomie beim Link "Geschichte".
Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Christoph Redies
Institut für Anatomie I der Universität Jena
Teichgraben 7, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 938511
E-Mail: redies@mti.uni-jena.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Geschichte / Archäologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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