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19.05.1999 14:45

Kindheit und Jugend vor und nach der Wende - Wissenschaftler untersuchen Sozialisation in Ost und We

Dr. Pia Teufel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

    Die Wiedervereinigung Deutschlands und der Wechsel des gesellschaftlichen Systems hat sich auf das Sozialverhalten und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen weit weniger dramatisch ausgewirkt, als ursprünglich vermutet wurde. Dennoch wird es noch eine ganze Generation dauern, bis die Folgen des politischen und sozialen Systemtransfers angenommen sein werden. Davon ist der Jenaer Entwicklungspsychologe Professor Rainer K. Silbereisen überzeugt, der zusammen mit den Pädagogen Professor Hans Oswald aus Potsdam und Professor Jürgen Zinnecker aus Siegen das Schwerpunktprogramm "Kindheit und Jugend in Deutschland vor und nach der Vereinigung" koordinierte. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 1992 bis 1998 mit 17 Millionen Mark gefördert; zuletzt waren rund 90 Wissenschaftler daran beteiligt. Psychologen, Soziologen und Erziehungswissenschaftler aus dem In- und Ausland diskutierten auf der Abschlußkonferenz die Ergebnisse ihrer umfangreichen Einzelstudien. Wie wirken sich vor dem Hintergrund derselben kulturellen Traditionen unterschiedliche politisch-soziale Verhältnisse auf die Entwicklung und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen aus, und wie macht sich ein außergewöhnlich abrupter politischer, sozialer und ideologischer Wandel bei ihnen bemerkbar?

    Ostdeutsche Jugendliche haben nach wie vor früher als Westdeutsche ein klares Berufsziel vor Augen. Auch werden sie früher im Leben wirtschaftlich selbständig und gründen ihre eigene Familie. Diese frühere Selbständigkeit, die sich in der DDR auf eine bessere Verträglichkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft zurückführen ließ, wobei die Jugendlichen jedoch weniger Wahlmöglichkeiten hatten und auch stärker bevormundet wurden, blieb bestehen, obwohl sich die Systembedingungen geändert haben.

    Anders als in Westdeutschland besteht in den neuen Bundesländern nach wie vor die Tendenz, das Gemeinwesen für das persönliche Schicksal verantwortlich zu machen. Rund zwei Drittel der Menschen im Osten, jedoch nur ein Drittel in den alten Bundesländern sehen den Staat in der Verantwortung, wenn es um Probleme wie Arbeitslosigkeit geht. Arbeitslose Eltern im Westen reagieren daher eher depressiv, während aus der entsprechenden Haltung im Osten ein psychisches Schutzschild erwächst. So wirken sich hier die Folgen von Arbeitslosigkeit weniger stark auf die Kinder aus. Jugendliche aus sogenannten Wendeverliererfamilien haben jedoch ein schlechteres Verhältnis zur Demokratie, während solche aus einem Wende-gewinner-umfeld überwiegend positiv eingestellt sind. Die pessimistische Einstellung der "Verlierer" wird nicht zwangsläufig auf ihre Kinder übertragen. In verschiedenen Studien wird die hohe Bedeutung des familiären Rückhalts in Ostdeutschland betont, gerade um die vielen Belastungen und Lebensereignisse verkraften zu können. Dennoch gilt auch im Osten, daß in Zeiten sozialen Wandels die Familien "auseinandergetrieben" werden und der Familiensinn in der Werteskala von Jugendlichen abrutscht.

    Der Prozeß des Zusammenwachsens scheint für die jüngere Generation einfacher zu sein als für ihre Eltern. Derzeit ist gerade bei Erwachsenen eine Renaissance der Familie und die bewußte Betonung einer ostdeutschen Identität zu beobachten, die mit dem Hochhalten "guter und nicht so guter deutscher Werte und Traditionen" einhergehen (Silbereisen).

    Die Übereinstimmung der Wertvorstellungen ist bei den Jugendlichen in Ost und West offenbar groß. Zwar ist die Fremdenfeindlichkeit und die national-autoritäre Haltung bei ostdeutschen Jugendlichen etwas stärker ausgeprägt als im Westen, die eigentlichen Unterschiede in der Einstellung sind jedoch auch hier zwischen den Geschlechtern und in der Schulbildung festzumachen - Mädchen sind generell weniger fremdenfeindlich als Jungen und Gymnasiasten weniger als Hauptschüler. Gerade im Anderssein etwas Attraktives zu sehen, ist eine kulturelle Errungenschaft, die sich im Osten noch entwickeln muß. Westdeutsche Jugendliche scheinen etwas hilfsbereiter und weniger aggressiv als Jugendliche im Osten zu sein, die Unterschiede sind jedoch wenig ausgeprägt.

    Die politische Orientierung von 14- bis 18jährigen Gymnasiasten in Ost- und Westberlin läßt unterschiedslos eine ausgeprägte humanistische Einstellung erkennen, eine deutliche Ablehnung von Gewalt und eine hohe Wahlbereitschaft. Der Blick auf die gesellschaftliche Zukunft ist im Vergleich zu der Sicht auf die eigene private Zukunft jedoch eher pessimistisch. Dabei scheinen PDS-Wähler unter den Jugendlichen eine sehr pessimistische Haltung einzunehmen, am optimistischsten sind offenbar die jungen CDU-Wähler.

    Eine erstmals 1990 und dann im Jahresabstand bis 1997 durchgeführte Befragung von Berliner Schülerinnen und Schüler der 7. bis 10. Klassen in Lichtenberg (Ost) und Charlottenburg (West) verteilt über alle Schulformen brachte als auffälliges Ergebnis die Entwicklung und Verfestigung gegenseitiger Vorurteile, obwohl sich die realen Lebensverhältnisse nach und nach angeglichen haben. Kinder und Jugendliche aus den Ostbezirken der Stadt, die anfangs fast bewundernd zu den Westberlinern aufschauten, wurden offensichtlich enttäuscht und sehen die Westberliner immer negativer, dafür wurde ihre Selbsteinschätzung immer besser. Die Bereitschaft, die anderen wirklich kennenzulernen, ist gering, und die gegenseitige Akzeptanz ist sogar zurückgegangen.

    Eine Untersuchung bei Berliner Schulanfängern, die ermitteln sollte, ob der Mauerfall Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung kleiner Kinder hatte, zeigte nur geringe Ost-West-Unterschiede, wohl aber deutliche Kohortenunterschiede. Die zwischen Ende 1988 bis Mitte 1990 geborenen eigentlichen "Wendekinder" (Einschulung 1995/96) wurden von ihren Kitaerzieherinnen, ihren Müttern und ihren Lehrerinnen im Gegensatz zu den "Vor-Wende-Kindern" (Geburtsjahrgang 1985/86) als unselbständiger und sozial weniger reif beschrieben. Entgegen den ursprünglichen Erwartungen waren es aber vor allem die Kinder im Westteil der Stadt - besonders die Jungen -, die häufiger problematisches Verhalten zeigten. Einer anderen Untersuchung zufolge zeigten die 1990 in Ostdeutschland geborenen Kinder im Alter von fünf Jahren eine erhöhte Aggressivität; eine Beobachtung, die in den Jahren darauf jedoch nicht weiter bestätigt werden konnte. Ein Vergleich der Freundeskreise von Schulanfängern in Ost- und Westberlin zeigte, daß es bei den Vorwendekindern noch unterschiedliche Freundschaftsmuster gegeben hatte, bei den eigentlichen "Wendekindern" war jedoch eine Annäherung der sozialen Entwicklungsverläufe eingetreten. Offenbar gibt es unterschiedliche Erziehungsbedingungen für ost- und westdeutsche Kinder. So waren ostdeutsche Mütter deutlich strenger als westdeutsche, sie forderten mehr Disziplin und Regeleinhaltung, ohne dabei jedoch weniger verständnisvoll zu sein. Ostdeutsche Kinder schwänzen auch nach wie vor seltener die Schule.

    Der gesellschaftliche Wandel scheint sich nicht unterschiedlich auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen auszuwirken; die Häufigkeit neurotischer und psychosomatischer Beschwerden unterscheidet sich kaum voneinander. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß der Anteil der Jugendlichen, die sich über ängstlich-depressive und psychosomatische Beschwerden beklagen, im Osten und Westen hoch ist.

    Die Scheidungsrate war in der ehemaligen DDR deutlich höher und alleinerziehende Mütter waren durch die zahlreichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten finanziell besser gestellt. Scheidungen heute wirken sich auf Kinder im Osten und Westen nicht grundlegend unterschiedlich aus; es ist die Armut alleinerziehender Mütter, die dabei als großer Streßfaktor gilt.

    Zwar ist die politische Transformation abgeschlossen, doch ist der Transfer von Einrichtungen nicht gleichbedeutend mit sozialer Integration, sagt Silbereisen. So wie sich aus demographischen Veränderungen, etwa der massiven Abwanderung junger, gut ausgebildeter Männer aus den neuen Bundesländern in den Westen, neue Probleme ergäben, müssen auch die Folgen des gesellschaftlichen Wandels für Kinder und Jugendliche langfristig wissenschaftlich begleitet werden, um "unerkannt tickende Bomben" zu entdecken. Gleichzeitig sei es auch interessant festzustellen, wie mit relativ einfachen Maßnahmen, beispielsweise mit dem Wegfall der öffentlichen Beurteilung von Schülern vor der ganzen Klasse, große Wirkungen erzielt werden könnten. Zudem seien Vergleiche mit Entwicklungen in anderen postsozialistischen Ländern erforderlich.

    Weitere Informationen gibt Prof. Dr. Rainer K. Silbereisen, Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Tel.: 036 41/945200, Fax: 945202, E-Mail: sii@rz.uni-jena.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Psychologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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