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24.05.2005 14:43

Die "Gerechtigkeitsfalle" und eine intelligente Alternative zu Straßenbenutzungsgebühren

Kim-Astrid Magister Pressestelle
Technische Universität Dresden

    Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wie es sein kann, dass unser Bruttosozialprodukt jährlich wächst, aber die gefühlte Lebensqualität schon seit Jahren immer weiter sinkt? Wissenschaftler der TU Dresden und der TU Warschau machen dafür unter anderem die "Gerechtigkeitsfalle" verantwortlich, derzufolge wir eher eine schlechte, aber faire Lösung wählen als eine unfair erscheinende Lösung, die besser für die Allgemeinheit ist. Aktuelle Experimente von Prof. Dirk Helbing, Martin Schönhof, Ulrich Stark und Prof. Janusz Ho?yst zeigen nun jedoch Wege auf, wie man knappe Resourcen besser nutzt [s. Advances in Complex Systems (1), 87-116 (2005)].
    Untersucht wurde die tägliche Routenwahl zwischen einem Ausgangsort (dem Wohnort) und einem Ziel (dem Arbeitsplatz). In dem vereinfachten Computerexperiment standen zwei alternative Routen zur Verfügung: eine Autobahn und eine Nebenstraße. Während die Autobahn bei geringer Belastung schneller zum Ziel führt, kann es sich bei ihrer Überlastung auszahlen, die Nebenstraße zu wählen. Bei einer bestimmten Verteilung der Fahrer, dem sog. Nutzergleichgewicht, sind die Fahrtzeiten auf beiden Alternativrouten gleich. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die Fahrer sich so verhalten, dass sich dieses faire Nutzergleichgewicht einstellt. Da die Fahrer sich untereinander jedoch nicht abstimmen können, gibt es Koordinationsprobleme, die zu unnötig erhöhten Fahrtzeiten führen können. Ist das Nutzergleichgewicht aber erst einmal gefunden, wäre es das Beste, immer wieder dieselbe Route zu wählen.
    Allerdings wäre die optimale Nutzung der knappen Straßenkapazitäten im sog. Systemoptimum gegeben, in dem die mittlere Fahrtzeit aller Verkehrsteilnehmer minimal wird. Das Problem des Systemoptimums ist allerdings, dass einige Fahrer zugunsten anderer Fahrer längere Fahrtzeiten in Kauf nehmen müssen. Da diese Lösung als unfair empfunden wird, hat sie wenig Chancen, realisiert zu werden. Lieber soll es uns allen (im Durchschnitt) schlechter gehen, als dass wir uns ungerecht behandelt fühlen. Dieses Prinzip, das dem Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit zugrunde liegt, ist die Wurzel der täglichen Verschwendung knapper Resourcen in fast allen Bereichen, wo es um gemeinsam genutzte Güter geht. Gibt es also einen Ausweg außer dem, der einem schnell in den Sinn kommt: Steuern (z.B. Straßenbenutzungsgebühren, Road Pricing oder Toll Collect)?
    Die Antwort lautet: "Ja!" Es gibt nämlich ein systemoptimales Verhalten, das fair ist. Vereinfacht gesagt sieht das so aus, dass die alternativen Routen abwechselnd genutzt werden. Wie aber lässt sich erreichen, dass die Verkehrsverteilung optimal ist und jeder auf der schnelleren Autobahn gleich oft zum Zug kommt? Die selbstorganisierte Koordination zwischen den Fahrern kann durch ein Informationssystem (Rundfunk, Internet, SMS-Verkehrsnachrichten etc.) leicht erreicht werden. Wissenschaftliche Experimente zeigen jedoch, dass es zur Etablierung der erforderlichen Wechselstrategie an Phantasie fehlt und die Versuchung zu schummeln groß ist: Zunächst kommen die meisten Testpersonen nicht auf die Idee, ein zeitabhängiges, abwechselndes Nutzungsverhalten zu entwickeln. Sie entdecken das systemoptimale Verhalten nur zufällig und behalten es dann auch nur für kurze Zeit bei. Die Versuchung, die Kooperationsbereitschaft der anderen auszunutzen, um noch besser voranzukommen, ist einfach zu groß. Das führt natürlich zu einem schnellen Zerfall vorhandener Kooperationsbereitschaft, so dass am Ende wieder nur alle im schlechteren Nutzergleichgewicht verharren und im Stau stehen. Da dies aber ebenfalls nicht befriedigend ist, lernen die Testpersonen irgendwann, der Versuchung zu widerstehen, die Kooperationsbereitschaft anderer auszunutzen. Leider kann dies viele hundert vergebliche Wiederholungen erfordern - zu lange, um von praktischer Bedeutung zu sein.

    Dennoch gibt es Möglichkeiten, die Kooperation zu beschleunigen: Zu viel Zeit geht mit der Entdeckung der besseren Strategie verloren. Wenn die Teilnehmer einmal das "Jeder kommt einmal zum Zug"-Prinzip gelernt und damit das egozentrische "Ich will alles, und zwar sofort"-Prinzip aufgegeben haben, kommt die Kooperation schnell zustande, vorausgesetzt, jeder widersteht der Versuchung, die Kooperationsbereitschaft anderer auszunutzen. Beide Aspekte könnten durch ein neuartiges Fahrerinformationssystem wirksam unterstützt werden. Demzufolge erhält jeder Fahrer (z.B. auf SMS-Anfrage in einem Informationszentrum) eine individuelle Routenwahlempfehlung, die gewährleistet, dass die Verkehrsverteilung optimal ist, wenn sich alle an sie halten. Nun kann es natürlich vorkommen, dass man gerade an dem Tag die längere Route empfohlen bekommt, an dem man ohnehin spät dran ist. In diesem Fall zahlt der Fahrer bei einer Nichtbeachtung der Empfehlung eine Gebühr, die der durch ihn verursachten Verschlechterung der Gesamtverkehrssituation entspricht. Ein anderer Fahrer kann diesen Betrag aber verdienen, wenn er bereit ist, für ihn auf die längere Route zu wechseln, so dass das Systemgleichgewicht wieder hergestellt wird. Das Raffinierte an dem Verfahren ist, dass man im Schnitt keine Gebühren zahlen muss, solange man sich im Durchschnitt fair verhält. Das stellt das intelligente Informationssystem durch die Auswahl der individuellen Empfehlungen sicher. Die Kosten für ein solches System könnte man aus den gesparten Infrastrukturinvestitionen für den Bau neuer Straßen finanzieren, denn die bessere Nutzung vorhandener Kapazitäten würde neue Straßen teilweise überflüssig machen. Auch wären die Genehmigungsverfahren wesentlich schneller. Gegenüber den gängigen Straßenbenutzungsgebühren hätte der neue Ansatz den Vorteil, dass die Mobilität der Bürger und damit ihre wirtschaftlich relevante Aktivität nicht durch finanzielle Daumenschrauben gebremst würde.
    Die wissenschaftlichen Experimente sind auch richtungsweisend für die Lösung vieler soziale Dilemmas, wo Gemeingüter in Gefahr sind, von Trittbrettfahrern ausgenutzt zu werden. Das beginnt beim Umweltschutz und endet bei Sozialleistungen. Der Staat versucht dieser Gefahr mit dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit zu begegnen. Dieses Verfahren lässt wenig Spielraum für flexible Unterstützung. Zudem ist es teuer, eine 100%-ige Gleichbehandlung sicherzustellen. Darüber hinaus setzt das Verfahren das Nutzergleichgewicht um und verschwendet damit knappe Resourcen. Schlimmer noch: Es impliziert, dass die Leistungen auf das Maß beschränkt werden müssen, das man jedem anspruchsberechtigten Bürger gleichzeitig garantieren kann. Eine höhere durchschnittliche Qualität könnte man aber dadurch erreichen, dass man das Prinzip "Hauptsache, es geht allen gleich" durch ein faires "Jeder kommt einmal zum Zug"-Prinzip ersetzt. Es wäre wahrscheinlich der wirkungsvollere Ansatz zur Verwirklichung von Chancengleichheit, wenn jeder selber entscheiden kann, wann er ein bisschen mehr Glück oder Unterstützung nötiger hat als andere. Entscheidend ist doch nur, dass die Bilanz im Mittel stimmt, und vor allem, dass sie so gut wie möglich ausfällt.

    Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an Prof. Dirk Helbing, Tel. 0351 463-36802 (nur bis 26.5. telefonisch erreichbar), Martin Schönhof, Tel. 0351 463-36721 oder Prof. Janusz Holyst, Tel. +48-226607133).


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Verkehr / Transport
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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