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25.07.2005 13:00

Experten ohne Expertise - RUB-Studie: Schlechte Noten für deutsche Kritiker

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    Leistet die Theaterkritik, was sie leisten soll, nämlich einen Beitrag zur Meinungsfindung? Schafft sie es tatsächlich, eine Brücke zu schlagen zwischen Kunstschaffenden auf der einen und dem Publikum auf der anderen Seite? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt der medienwissenschaftlichen Dissertation "Entertainment in der Kritik", in der sich Olaf Jubin mit der Musicalrezension befasst. Er ermittelte anhand von 1.824 Kritiken aus 45 Jahren, welche Aspekte eines Musicals die Theaterkritik in den USA, Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz fokussiert. Fazit der mit dem "Preis an Studierende" der RUB ausgezeichneten Untersuchung: Im deutschsprachigen Raum ging der Musicalboom der 80er und 90er-Jahre nicht mit einer Aus- bzw. Weiterbildung der Kritiker zu Musicalspezialisten einher. "Auch heutzutage wissen sich die vermeintlichen Theaterexperten zumeist nicht besser zu helfen, als jedes neue Musical mit My Fair Lady zu vergleichen", bringt es Jubin auf den Punkt.

    Bochum, 25.07.2005
    Nr. 234

    Experten ohne Expertise
    Die internationale Theaterkritik und das Musical
    RUB-Studie: Schlechte Noten für deutsche Kritiker

    Leistet die Theaterkritik, was sie leisten soll, nämlich einen Beitrag zur Meinungsfindung? Schafft sie es tatsächlich, eine Brücke zu schlagen zwischen Kunstschaffenden auf der einen und dem Publikum auf der anderen Seite? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt der medienwissenschaftlichen Dissertation "Entertainment in der Kritik", in der sich Olaf Jubin mit der Musicalrezension befasst. Er ermittelte anhand von 1.824 Kritiken aus 45 Jahren, welche Aspekte eines Musicals die Theaterkritik in den USA, Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz fokussiert. Fazit der mit dem "Preis an Studierende" der RUB ausgezeichneten Untersuchung: Im deutschsprachigen Raum ging der Musicalboom der 80er und 90er-Jahre nicht mit einer Aus- bzw. Weiterbildung der Kritiker zu Musicalspezialisten einher. "Auch heutzutage wissen sich die vermeintlichen Theaterexperten zumeist nicht besser zu helfen, als jedes neue Musical mit My Fair Lady zu vergleichen", bringt es Jubin auf den Punkt.

    Dem eigenen Kulturkreis verhaftet

    Es zeigte sich, dass die internationale Theaterkritik Musicalproduktionen keineswegs nach deren Eigenheiten und deren eigenem Anspruch bewertet. Ausschlaggebend dafür, welche Aspekte einer Aufführung beschrieben, interpretiert und beurteilt werden, sind vielmehr folgende Faktoren: die Erwartungshaltung der Kritiker und des Publikums, die Kritiktradition des jeweiligen Kulturraumes sowie die Reputation der beteiligten Künstler. "So gilt generell: Je prominenter der Kunstschaffende, desto intensiver setzt sich die Kritik mit seiner Arbeit auseinander", erläutert Olaf Jubin. Bezüge werden von den Rezensenten vornehmlich zum eigenen Kulturkreis hergestellt - völlig unabhängig davon, ob das Wesen des betreffenden Werkes auf diese Weise tatsächlich treffend und angemessen vermittelt werden kann.

    Persönlich gefärbte Bewertung

    Insgesamt erwiesen sich die Besprechungen sowohl in ihrer Herangehensweise als auch in ihren Urteilen als stark persönlich gefärbt. Zu den gängigen Wertmaßstäben der Kritik im Bereich Musical zählen, ob ein Stück unterhaltend, seine Musik eingängig, ein Stoff kitschig oder ungewöhnlich ist. Solche Maßstäbe vermitteln den Lesern aber kaum eine konkrete Vorstellung von der jeweiligen Aufführung, da die Rezensenten nicht nur hier in ihren Auffassungen deutlich voneinander abweichen.

    Spielort entscheidet mit über Kritik

    Je nachdem, wo es aufgeführt wird, trägt die Theaterkritik darüber hinaus völlig unterschiedliche Kriterien an ein Musical heran. In den USA erhält ein und dieselbe Produktion in der Provinz andere Beurteilungen als am Broadway. Hierzulande wiederum hängt die Bewertung eines Musicals auch und gerade von der Spielstätte ab: Inszenierungen an subventionierten Bühnen werden wohlwollender aufgenommen als rein kommerzielle Aufführungen. Für Musicals, die an Opernbühnen aufgeführt werden, gelten ebenfalls besondere Maßstäbe. "Jene Maßstäbe werden jedoch nie erläutert", bemängelt Jubin, "und die Wertvorstellungen der Kritiker nie problematisiert. Ebenso wenig kommen die Entstehungsbedingungen einer Rezension zur Sprache." Das wiederum mache es der Leserschaft unmöglich, die entsprechenden Bewertungen näher einzuordnen und gegebenenfalls zu relativieren.

    Lesefreundlichkeit in den USA, wenig Fehler in Großbritannien

    Während den britischen Medien ein Lob dafür gebührt, dass ihre Berichterstattung im internationalen Vergleich überdurchschnittlich wenig faktische Fehler aufweist, ist der US-Presse die größte Lesefreundlichkeit zu bescheinigen. Sie ist am stärksten bestrebt, durch aufschlussreiche und verständlich formulierte Beiträge auf den heterogenen Wissensstand und Bildungsgrad ihrer Leser Rücksicht zu nehmen. Außerdem ordnet sie eine Darbietung am häufigsten in genrespezifische Zusammenhänge ein und zielt mittels Zitaten sowie Detailanalysen auf größtmögliche Plastizität ihrer Betrachtungen. In dieser Hinsicht hinterlassen die deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften den ungünstigsten Eindruck. Hier werden besonders selten Bezüge zum sonstigen Schaffen eines Komponisten oder zur Geschichte des Musicals hergestellt. Die Theaterkritik in Deutschland, Österreich und der Schweiz greift eher zu gattungsfremden als zu gattungsinhärenten Vergleichen und Bezügen.

    Gravierende Wissenslücken in deutschsprachigen Ländern

    Dass viele deutschsprachige Kritiker zudem gravierende Wissenslücken aufweisen, belegt ein anderes Ergebnis: Seit den 70er-Jahren liegt der Anteil an deutschsprachigen Rezensionen, die sachlich falsche Angaben enthalten, konstant bei ca. 25 Prozent, und die meisten von ihnen finden sich in deutschen Printmedien. Die Bandbreite der Fehler reicht dabei von falschen Namen über falsche Stücktitel selbst des zu rezensierenden Musicals bis hin zu falschen Zuordnungen von Funktion, Werken und Nationalitäten der Beteiligten.

    Titelaufnahme

    Olaf Jubin: Entertainment in der Kritik. Eine komparative Analyse von amerikanischen, britischen und deutschsprachigen Rezensionen zu den Musicals von Stephen Sondheim und Andrew Lloyd Webber, Centaurus Verlag 2005, ISBN: 3-8255-0531-6, ca. 50 Euro

    Weitere Informationen

    Olaf Jubin, jubino@regents.ac.uk


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Kunst / Design, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Musik / Theater
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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