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08.07.1999 09:26

"Tschernobyl-Forscher" tagen an der Fachhochschule in Weingarten

Dipl.-Journ. Tove Simpfendörfer Pressestelle
Hochschule Ravensburg-Weingarten

    Die erste Konferenz der EU-Forschungsgruppe "Grund- und Oberflächenwasser im Gebiet von Tschernobyl" findet momentan an der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten statt. Die Wissenschaftler sammeln nicht nur Daten, sondern helfen der Bevölkerung in der Ukraine, Weißrußland und Rußland mit konkreten Tips.

    Die gute Nachricht vorweg: Es kann keine Rede davon sein, daß die Gewässer um Tschernobyl flächendeckend kontaminert, also radioaktiv verseucht, sind. So liegt zum Beispiel die Konzentration von Radiocäsium (Cs-137) im Trinkwasserspeicher von Kiew, der zehn Millionen Menschen mit Wasser versorgt, weit unterhalb der EU-Grenzwerte. Dies gilt auch für die Fische. Dieses vielleicht überraschende Ergebnis hat jetzt ein Vergleich von Daten auf einem internationalen Kongreß an der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten ergeben, zu dem sich Forscherinnen und Forscher aus sieben Ländern trafen.

    Allerdings bedeutet das nun keineswegs, daß 13 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Welt wieder in Ordnung ist. Ganz im Gegenteil. In einigen kleineren Seen in der Ukraine, Weißrußland und Rußland tritt Radioaktivität weiterhin in einem bedenklichen Maß auf. "Das Radiocäsium", erläutert Professor Dr. Gregor Zibold von der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, "sammelt sich auf dem Weg der Nahrungskette an. Dies führt nun dazu, daß die Fische in manchen Seen in einem Umkreis von 200 Kilometern um Tschernobyl so stark kontaminiert sind, daß die EU-Grenzwerte weit überschritten werden." Zibold und Kollegen haben eine radioaktive Verseuchung von 1.000 bis 10.000 Becquerel pro Kilogramm Fisch gemessen. Die Europäische Union hat für den Verzehr von Fischen einen Grenzwert von 600 Becquerel festgelegt.

    Im September 1998 hat die Europäische Union die Forschungsgruppe "Grund- und Oberflächenwasser im Gebiet um Tschernobyl" ("Aquifiers and surface-waters in the Chernobyl area", abgekürzt AQUASCOPE) gegründet. In ihr sind Bodenchemiker, Geologen, Hydrologen (Wasserforscher) und Physiker aus den Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Portugal, Rußland, der Ukraine sowie Weißrußland vertreten. Mit Professor Dr. Gregor Zibold, Dipl.-Ing. (FH) Susanne Kaminski und Prof. Dr. Eckehard Klemt kommen die Vertreter Deutschlands von der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten. Die 13 Forscher treffen sich vom 5. bis 9. Juli 1999 zu ihrer ersten wissenschaftlichen Konferenz, und zwar im oberschwäbischen Weingarten.

    Mit AQUASCOPE, das eine Laufzeit von drei Jahren hat, werden ähnliche EU-Projekte fortgesetzt. Untersucht wird, inwieweit sich der Reaktorunfalls von Tschernobyl auf Wassersysteme auswirkt. Gesucht werden damit Antworten auf die Frage, wie sich die radioaktive Belastung von komplexen Wassersystemen über einen längeren Zeitraum betrachtet verändert und in welchem Ausmaß Radiocäsium (Cs-137) von der Oberfläche ins Grundwasser gelangt.

    In den ersten Jahren nach dem Tschernobyl-Unfall nahm die Konzentration von Radioaktivität im Wasser sowie in den Fischern stetig ab. Das Radiocäsium wanderte auf den Boden der Gewässer ab und wurde in die Lehm- und Sedimentschichten eingebunden. "In diesem Jahr aber", so Zibold, "haben wir erstmals festgestellt, daß die Konzentration von Radiocäsium nicht mehr im gleichen Maß wie all die Jahre vorher abnimmt." Vergleichsmessungen im Bodensee sowie in England und Portugal haben diese Phänomen der langsamer gewordenen Abnahme bestätigt.

    Süddeutschland war vor zwölf Jahren von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl mehr betroffen als andere Teile Deutschlands. Seit dieser Zeit beschäftigt sich das Strahlungsmeßlabor des Fachbereichs Physikalische Technik der FH in Weingarten mit den Auswirkungen des Reaktorunfalls. Der Bodensee verhält sich, was die Abnahme der Konzentration von Radiocäsium angeht, genau gleich wie die osteuropäischen Gewässer - im absoluten Niveau aber sehr unterschiedlich. Im Bodensee hat Kaminski 1996 den Wert 0,2 Millibecquerel pro Liter Wasser gemessen, im Vorsee in Oberschwaben waren es 60 Millibecquerel - beides verglichen mit den Seen um Tschernobyl verschwindend niedere Größen.

    Im Gebiet um Tschernobyl hat das jetzt neu beobachtete Phänomen aber gravierende Auswirkungen. Professor Zibold: "Viele Fische erfüllen die Grenzwerte, die einen ungefährlichen Verzehr erlauben, momentan noch nicht. Und dies wird sich auch im nächsten Jahrzehnt nicht ändern." Deswegen müsse diese Situation im Interesse der Gesundheit der dortigen Bevölkerung weiter beobachtet werden.

    Mehrere der Wissenschaftler der Forschungsgruppe AQUASCOPE kommen aus Rußland, Weißland und der Ukraine und sind damit selber hautnah von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl betroffen. Dies merkt man ihren Aussagen an. Der russische Strahlenexperte Dr. Alexei Konoplev sagt: "Die Menschen sollen das Gefühl haben, die Forschungen der Wissenschaftler verbessern die Qualität ihres Lebens."

    AQUASCOPE beschränkt sich deswegen nicht auf die reine Sammlung von Daten und deren Auswertung. Das Projekt hat ein weiteres Ziel. Die Forscher wollen in diesem Jahr noch "Projekte anstoßen, die der Bevölkerung helfen". Geboten werden soll in Zusammenarbeit mit den Verwaltungen vor Ort Aufklärung, sprich: handfeste Information, die es seither so konkret nicht gegeben hat. Gregor Zibold nennt Beispiele. "Aus dem und dem See dürfen keine Fische gegessen werden." Oder: "Diese Fischsorte hier ist stärker verseucht, die dürft ihr auf keinen Fall angeln, jene aber schon." Oder: "Wenn ihr schon Fische eßt, dann aber bitte nur einen oder zwei im Monat."


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    fachunabhängig
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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