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22.07.1999 14:55

Xenonschlaf

Peter Pietschmann Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Universität Ulm

    Der Xenonschlaf - Narkose des dritten Jahrtausends
    Wie ein volatiles Anästhetikum auf den intravenösen Eintritt vorbereitet wird

    »Xenon« ist Griechisch und bedeutet »das Fremde«. Aber so fremd, wie sein Name will, ist das Element, 1898 von W. Ramsay und M. W. Tavers entdeckt, schon lange nicht mehr. Nun wird es bald noch viel bekannter werden. Die anästhetischen und analgetischen Eigenschaften des Edelgases kennt man schon seit Ende der 30er Jahre. Als Narkosegas bei einer Operation wurde es erstmalig 1951 eingesetzt. In weiteren Anwendungen erwies sich seine weitgehende Kreislaufneutralität, und so hätte es schon früh einen Siegeslauf antreten können, wenn seiner Verbreitung nicht die hohen Kosten entgegengestanden hätten. Bei respiratorischer Zufuhr werden für zwei Narkosestunden etwa 12 Liter benötigt, die derzeit mit etwa 800.-- bis 1000.-- DM zu Buche schlagen. Ein auf auf 12 Liter begrenzter Verbrauch erfordert bereits geschlossene Narkosesysteme mit Recycling-Komponenten, ist also kaum weiter reduzierbar. Es kommt allerdings noch ein weiteres hinzu: Die hohe Dichte von Xenon (das Litergewicht ist viermal so hoch wie das von Luft) kann zu einer Beeinträchtigung der Lungenmechanik führen, so daß die Anwendung in der Respirationsnarkose bei Patienten mit obstruktiven Lungenerkrankungen (Rauchern, Asthmatikern) sowie bei Kindern ausscheidet. Daß Xenon nun aber dennoch im Begriff ist, alle Hürden zu überwinden und die Narkose zu revolutionieren, verdankt sich vieljährigen Ulmer Forschungsarbeiten, die hier von Prof. Dr. Michael Georgieff, Ärztlichem Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Anästhesiologie, und seiner Arbeitsgruppe durchgeführt worden sind. Den Durchbruch brachte die Idee, Xenon intravenös zu applizieren.

    Subjektiv angenehm

    Anlaß dafür, das Edelgas intensiv zu beforschen, um es für die Anästhesie auf breiter Basis fruchtbar machen zu können, gab es hinlänglich: es beeinträchtigt die Kreislaufstabilität nicht, läßt den Patienten sowohl den Schlaf als auch das Aufwachen aus der Narkose subjektiv nicht als unangenehm empfinden, gewährleistet - da es einen niedrigen Blutlöslichkeitskoeffizienten hat - kurze An- und Abflutungszeiten und ist infolgedessen sehr gut steuerbar. Und obwohl der Patient aus der Xenon-Narkose rasch aufwacht, bleibt die Schmerzhemmung gleichwohl noch mehrere Stunden nach dem Eingriff erhalten. Das hat insofern große Bedeutung, als die Schmerzmittel, die zusätzlich zu den gängigen Anästhetika verabfolgt werden müssen (in der Regel Opiatderivate), die Atmung deprimieren. Dadurch verlängert sich die Aufenthaltsdauer im Aufwachraum, und auch auf der peripheren Station ist eine mehrstündige Überwachung unerläßlich. Besonders groß ist die Gefahr der Atemdepression, wenn postoperativ weitere Schmerzmittelgaben erforderlich sind. Traditionelle Anästhetika haben darüber hinaus kardiovaskuläre Nebenwirkungen.

    Den gebräuchlichen volatilen (flüchtigen) Anästhetika haften noch weitere Negativmerkmale an, die erheblich ins Gewicht fallen. Sie gehören überwiegend zu den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKWs) und tragen damit zur Zerstörung der Ozonschicht in der Atmosphäre bei. Lachgas (N2O) gilt als Treibhausgas. Den Substanzen werden überdies teratogene (fruchtschädigende) Wirkungen nachgesagt, was zu einem Arbeitsverbot für Schwangere in Operationsbereichen während der Anwendung der Inhalationsanästhetika geführt hat. Die gleichfalls traditionellen intravenösen anästhetischen Pharmaka wiederum belasten durch ihre Abbauprodukte die Abwässer. Als besonders wassertoxisch ist Phenol eingestuft, das aus Alkylphenol entsteht.

    Metamorphose eines Gases

    Die Forschungen Georgieffs und seiner Mitarbeiter, deren Ziel es war, das medizinisch und ökologisch überlegene Xenon konkurrenzfähig zu machen, führten schließlich vom Recyclinggedanken im Kontext der respiratorischen Anwendung zu einer Verwandlung des Gases in ein intravenöses Pharmakon. Schon seit rund vier Jahrzehnten werden Fettemulsionen in der künstlichen intravenösen Ernährung angewendet. Dieselben Fettemulsionen lassen sich auch als Träger für Pharmaka nutzen. Xenon ist eine lipophile Substanz, wird mithin in Fett gut gelöst, das ihm deshalb als Transportvehikel dienen kann. Anders als bei der Aufnahme des Gases über die Lunge wird Xenon an einem Lipidträger im Körper nicht großflächig verteilt. Die Verringerung des Verteilungsraumes innerhalb der Kreislaufbereiche vermindert die erforderliche Dosis drastisch. Der Bedarf für eine zweistündige Narkose liegt bei etwa 0,15 Litern, also beinahe um den Faktor 100 unter dem der Xenon-Respirationsnarkose, und dürfte noch weiter verminderbar sein. Auch die analgetische Wirkung ist hoch, so daß keine zusätzlichen Schmerzmittel gegeben werden müssen. Darüber hinaus sinkt der Bedarf an muskelentspannenden Additiven (Muskelrelaxantien). Die Lungenmechanik bleibt unbeeinträchtigt, da die Xenongesamtmenge im Atemgas um mehr als 90 % vermindert wird. Jedoch erfolgt die Elimination ausschließlich über die Lunge, was die kontinuierliche exspiratorische, in der Atem-Abluft durchgeführte, Konzentrationsmessung und damit eine genaue Steuerung der Narkosetiefe ermöglicht.

    Bis zur Marktreife und Zulassung des lipidgebundenen Xenons als intravenöses Narkotikum werden allerdings noch zwei bis drei Jahre vergehen. Doch hat Georgieff sowohl für das Shuttle-Modell der Lipide als auch für die Technik der Überwachung der Narkosetiefe anhand der vom Patienten ausgeatmeten Luft (im sogenannten »Closed-Loop-Verfahren«) bereits weltweit Patente angemeldet. Wenn alle Rechnungen aufgehen, wird dieser epochale medizinische Fortschritt nicht nur dem Patienten guttun, sondern auch dem klinischen Finanzhaushalt. Denn nach dem derzeitigen Stand der Dinge würde eine zweistündige Anästhesie mit intravenösem Xenon etwa DM 30.--, vielleicht auch DM 32.-- kosten, für eine herkömmliche Anästhesie gleicher Dauer hingegen müssen DM 168,56 in Ansatz gebracht werden. Auch Schmerzfreiheit und Schlaf (Analgosedierung) auf der Intensivstation kosten derzeit weit mehr - für 24 Stunden DM 330,44 -, als sie mit intravenösem Xenon kosten dürften: unter Zugrundelegung des gegenwärtigen Preisgefüges ist hier von etwa DM 45.-- auszugehen. Wir hätten dann einen jener seltenen Fälle vor uns, wo mehr Gesundheit für weniger Geld zu haben ist.

    Mit dem Konzept der intravenösen Anwendung des volatilen Narkotikums Xenon hat Georgieff schon jetzt weltweit nachhaltige Aufmerksamkeit ausgelöst. Gerade ist ihm der mit DM 100.000.-- dotierte Braunschweig-Preis zugesprochen worden, der am 24. September 1999 im Rahmen des Kongresses »Lebenswelten für morgen« erstmalig verliehen wird. Der Braunschweig-Preis »für hervorragende anwendungsnahe Forschungsarbeiten« wurde 1997 international ausgeschrieben und soll künftig im Zweijahres-Turnus vergeben werden. Er ist, so eine Pressemitteilung der Ausloberin, »der höchstdotierte Forschungspreis dieser Art einer deutschen Stadt«.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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