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29.09.2005 15:28

Was wir selbst nicht können, verstehen wir auch bei

Dr. Andreas Trepte Abteilung Kommunikation
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

    Max-Planck-Forscher zeigen: Erst die eigenen Erfahrungen ermöglichen
    uns, Empathie und Mitgefühl für andere zu empfinden
    Erfolgreiche soziale Kommunikation beruht vor allem auf der Fähigkeit,
    die Handlungen anderer Menschen zu verstehen. Wie aber können wir
    uns vorstellen, was andere Menschen gerade denken oder welche
    Absichten sie verfolgen? Psychologen und Neurowissenschaftler führen
    dies auf eine Art Simulation zurück, die in unserem Gehirn abläuft, sobald
    wir eine handelnde Person beobachten - die Handlung der beobachteten
    Person wird sozusagen innerlich imitiert. Doch Forscher des
    Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in
    München konnten jetzt in Kooperation mit Wissenschaftlern der
    University of Bournemouth in England sowie der Rutgers University in
    Newark, USA, belegen, dass wir Handlungen anderer Personen offenbar
    auf der Basis unseres eigenen "Handlungsinventars" nachvollziehen: Der
    eigene Geist und der eigene Körper liefern uns also die Grundlage, um zu
    verstehen, was andere Menschen gerade tun, fühlen oder denken. Dieser
    Nachweis gelang am Beispiel von zwei Patienten, die durch eine extrem
    seltene Erkrankung die Fähigkeit verloren hatten, ihren eigenen Körper
    wahrzunehmen (Nature Neuroscience, Oktober 2005).

    In der gerade erschienenen Studie zeigen Simone Bosbach und Wolfgang Prinz
    mit ihren Kollegen, dass die beiden Patienten tatsächlich Defizite in der
    Interpretation von Handlungen anderer Personen haben. Die beiden Patienten
    sind derzeit die einzigen bekannten Fälle weltweit mit diesem Krankheitsbild.
    Dessen psychologischen Konsequenzen sind dramatisch. Beide Patienten
    berichten, dass sie vor allem zu Beginn ihrer Erkrankung das Gefühl hatten,
    ihren Körper gänzlich "verloren" zu haben. Zwar haben sie mittlerweile wieder
    gelernt, einfache Körperbewegungen auszuführen - dabei sind sie jedoch
    darauf angewiesen, ihren Körper zu sehen. In der Dunkelheit würden die
    Patienten dagegen vollständig die Kontrolle über ihren Körper verlieren, weil
    sie nicht mehr in der Lage sind, mit Hilfe der Sinneszellen in den Gelenken
    und Muskeln beispielsweise die Position ihrer Arme und Beine relativ zum
    Körper zu bestimmen.
    Gesunde Menschen können dies dagegen dank der Eigenwahrnehmung ihres
    Körpers (propriozeptive Rückmeldungen) problemlos. Die Eigenwahrnehmung
    vermittelt unserem Gehirn außerdem, wann und in welchem Umfang sich
    Muskeln zusammenziehen oder strecken und in welchem Ausmaß sich
    Gelenke beugen oder strecken. Erst dieser Sinn befähigt uns, bestimmte
    Körperhaltungen einzunehmen, Bewegungen auszuführen und ist entscheidend
    für das psychologische Bewusstsein, einen Körper zu haben.

    Bosbach und ihre Kollegen konfrontierten nun die Patienten mit kurzen Videofilmen, in denen Personen
    gebeten wurden, Kisten anzuheben. Diese Kisten waren jeweils unterschiedlich schwer. Die beiden
    Patienten wurden im ersten Teil der Aufgabe gebeten, das Gewicht der Kiste zu schätzen, die von der
    Person im Videofilm gerade angehoben wurde. Die Patienten erhielten keinerlei Hinweise, sondern
    mussten das Gewicht der Kiste allein aus dem Bewegungsablauf der Person im Film erschließen. Es
    zeigte sich, dass die Patienten das Gewicht der Kisten genauso treffsicher und korrekt einschätzen
    konnten wie gesunde Kontrollpersonen. Offenbar konnten sie für das Lösen dieser Aufgabe ihr Wissen,
    dass zum Beispiel eine langsame Körperbewegung eher ein schwere Last anzeigt und eine schnellere und
    ausladendere Bewegung eher auf ein geringeres Gewicht deutet, anwenden.
    Auch im zweiten Teil der Aufgabe sahen die Patienten Videofilme von Personen, die Kisten anhoben.
    Allerdings wurden nun die Personen in einigen Fällen im Film über das tatsächliche Gewicht der Kiste
    getäuscht. So erhielt der Akteur vor dem Anheben der Kiste zum Beispiel die Information, er solle nun
    eine 18 Kilogramm schwere Kiste anheben - tatsächlich aber betrug das Gewicht nur drei Kilo. Die
    Patienten sollten nun angeben, ob die Person in dem Videofilm die richtige oder die falsche Erwartung
    bezüglich des Gewichts der Kiste hatte. Wieder konnten die Patienten nur den Bewegungsablauf als
    Informationsquelle für ihr Urteil heranziehen. Wurden die Personen im Film hinsichtlich des Gewichts
    der Kiste getäuscht, zeigten sich charakteristische Abweichungen im Bewegungsablauf zwischen der
    Phase, in der sich der Akteur auf das Anheben der Kiste vorbereitete (z.B. in Erwartung einer schweren
    Kiste) und der Phase, in der die Hebebewegung tatsächlich ausgeführt wurde (Anheben der Kiste, die
    deutlich leichter als erwartet war). Hingegen bleibt eine solche Diskrepanz zwischen
    Bewegungsvorbereitung und -ausführung aus, wenn die Person eine korrekte Gewichtserwartung hat.
    Gesunde Kontrollpersonen haben bei dieser zweiten Aufgabe kein Problem, die Situation richtig
    einzuschätzen. Die beiden Patienten hingegen hatten große Schwierigkeiten. Sie erkannten deutlich
    schlechter als gesunde Kontrollpersonen, ob die Person vor dem Anheben der Kiste deren Gewicht richtig
    eingeschätzt hatte, oder ob sie sich hatte täuschen lassen.
    Schließlich kehrten die Wissenschaftler in einem weiteren Experiment die Aufgabe um. Sie baten nun
    einen der Patienten, selbst Kisten anzuheben und filmten ihn bei dieser Tätigkeit. Während der Aufnahme
    wurde der Patient nun in einigen Fällen über das Gewicht der Kiste getäuscht, ehe er die Hebebewegung
    ausführte. Dann sollten gesunde Kontrollpersonen, nachdem sie das Video gesehen hatten, beurteilen, ob
    der Patient das richtige oder das falsche Gewicht erwartet hatte. Bei dieser Aufgabe versagten die
    Kontrollpersonen, denn der Bewegungsablauf des Patienten zeigte im Falle einer falschen Erwartung
    nicht die charakteristische Diskrepanz zwischen der Bewegungsvorbereitung und -ausführung. Dies
    bedeutet, dass die Patienten aufgrund des Fehlens der Eigenwahrnehmung ihre Bewegungen nicht an ihre
    Erwartungen hinsichtlich des Gewichts der Kiste anpassen können - in anderen Worten: Die Patienten
    hatten keine Möglichkeit, sich zuvor auf das Gewicht der Kiste einzustellen. Aus diesem Grund gelang es
    ihnen auch nicht, bei anderen Personen Bewegungsabläufe in Hinblick auf die zugrundeliegenden
    Erwartungen richtig auszuwerten.
    Bewegungsmuster, die im Gehirn aktiviert werden, wenn wir Handlungen einer anderen Person
    beobachten, enthalten auch Informationen und Wissen über die Funktionsweise unseres eigenen Körpers.
    Die Bewegungsmöglichkeiten und -beschränkungen unseres eigenen Körpers sind also die Referenz, von
    der ausgehend wir die Handlungen anderer Personen verarbeiten und interpretieren. In anderen Worten:
    Was wir selbst können, verstehen wir auch bei anderen und umgekehrt, was wir selbst nicht können,
    verstehen wir auch bei anderen nicht. Rückmeldungen von unserem eigenen Körper tragen also offenbar
    zu unserem intuitiven Wissen über die Absichten anderer Personen bei. Auf diese Weise können wir nicht
    nur Handlungsfolgen vorhersagen, sondern uns sogar in die andere Person "hineinversetzen". Ein solcher
    Mechanismus ist die Basis für Mitgefühl und Empathie und somit entscheidend für das Gelingen und
    Fortbestehen sozialer Beziehungen.
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    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Chemie, Informationstechnik, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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