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24.10.2005 08:08

Den Schmerz der "bitteren Herzen" teilen

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Katholische Theologie

    Seit sieben Jahren arbeitet die Tübinger Psychologin und Theologin Dr. Simone Lindorfer mit traumatisierten Menschen in den Bürgerkriegsgebieten Ostafrikas. Immer wieder hat sie dabei erlebt, dass eine theologische Perspektive einen wichtigen Beitrag in der Arbeit mit diesen traumatischen Erlebnissen leisten kann. In ihrer Doktorarbeit reflektiert sie ihre Erfahrungen und verbindet dabei Theorie und Praxis, Psychologie und Theologie.

    Zwischen Theologie und Psychologie: Trauma-Arbeit in Ostafrika

    Nach 18 Jahren Bürgerkrieg in Nord-Uganda ist der Bedarf an psychosozialer Betreuung und Therapie enorm hoch: Vertreibung, Mord, Ausbildung von Kindersoldaten und Vergewaltigungen gehören zur unmittelbaren Realität der Bevölkerung. Von 1999 bis 2002 baute Dr. Simone Lindorfer im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) ein Trauma-Projekt in Uganda auf. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit reflektiert die Theologin und Psychologin in ihrer Doktorarbeit "Sharing the pain of the bitter hearts - Liberation Psychology and Gender-Related Violence in Eastern Africa" am Katholisch-Theologischen Seminar der Universität Tübingen. Methodisch greift Simone Lindorfer dabei sowohl auf die Theologie als auch auf die Psychologie zurück.

    Während ihrer Zeit in Uganda organisierte Lindorfer in einem Ausbildungszentrum der Katholischen Kirche von Uganda mit drei ugandischen Kollegen Programme zur Rehabilitation von traumatisierten Menschen und Maßnahmen zur Trauma-Prävention. Diese behandelten sowohl das Phänomen Bürgerkrieg als auch den "täglichen Horror" der Gewalt innerhalb von Dorfgemeinschaften und Familien - insbesondere die Gewalt gegen Frauen. Dabei geht es darum, dass die Menschen in Gesprächen mit den Beratern lernen, so über den Krieg und seine Folgen zu sprechen, dass sie ihre eigenen Gefühle und die anderer besser verstehen und Möglichkeiten finden, sich füreinander einzusetzen.

    Die Trauma-Arbeit erfolgt in drei Schritten. An erster Stelle steht die Stabilisierung. "Bevor sich die Betroffenen überhaupt mit der Trauma-Situation auseinander setzen können, müssen wir zunächst ein Grundmaß an Sicherheit herstellen", berichtet Lindorfer. Erst dann kommt das eigentliche Aufarbeiten, das im Erzählen und Betrauern der traumatischen Geschichte besteht, das aber in vielen Fällen aufgrund einer anhaltenden traumatischen Situation wie in den Bürgerkriegen Ugandas, gar nicht möglich ist, weil die Sicherheit noch nicht hergestellt ist. Im Idealfall folgt darauf die Phase der Integration: Die Opfer rekonstruieren ihren Lebenssinn und bauen neues Vertrauen auf. "Denn Trauma", betont Lindorfer, "heißt Verlust von Vertrauen und Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Dieses Vertrauen muss wieder hergestellt werden." Das ist umso schwieriger, je persönlicher die Gewalt ist, der das Opfer begegnet ist: "Gewalt durch jemanden, den ich nicht kenne, ist besser zu bewältigen als Gewalt durch den Nachbarn oder den Ehemann."

    Um mit Betroffenen und Helfern ins Gespräch zu kommen, arbeiten Lindorfer und ihre Kollegen mit Postern und Abbildungen, die die Erfahrungswelt der Betroffenen rund um die Trauma-Situationen realistisch zeigen. Diese Illustrationen werden zum einen zu diagnostischen Zwecken in der Dorfgemeinschaft eingesetzt. Fragen wie "Ist so etwas bei euch schon einmal passiert?" und "Wie habt ihr euch verhalten?" geben den Bewohnern die Möglichkeit, von ihren Erfahrungen zu berichten, ohne dies auf einer ganz persönlichen Ebene zu tun. Auf Grundlage dieser Gespräche bewertet Lindorfer, wie die Dorfgemeinschaft selbst bestimmte Symptome deutet und schließt daraus, welche Bewältigungsstrategien es bereits gibt. Darüber hinaus dienen die Abbildungen der Sensibilisierung: Sie helfen, das Bewusstsein dafür, was Trauma ist und wie man mit einer Trauma-Situation umgehen kann, zu entwickeln. Schließlich finden die Abbildungen auch Anwendung in Trainings für die Helfer vor Ort. Sie vermitteln den Laienberatern das notwendige Basiswissen und zeigen mögliche Interventionswege auf.

    Auf die Arbeit mit diesen Abbildungen setzt Lindorfer beispielsweise bei der Reintegration von Kindersoldaten in die Familie und die Dorfgemeinschaft. So gibt es eine Abbildung, die einen Jungen bei der Rückkehr in sein Dorf und die Reaktionen der Dorfbewohner zeigt. Lindorfer erklärt: "Die größte Angst der Kindersoldaten ist es, nicht mehr von ihrer Dorfgemeinschaft aufgenommen zu werden. Die Abbildungen helfen den Kindern, zu beschreiben, welche Reaktionen sie am häufigsten erlebt haben - ein erster Schritt, um sich mit ihren Erfahrungen auseinander zu setzen." Bei Kindersoldaten ist die Trauma-Arbeit besonders kompliziert. Denn diese Kinder sind gleichzeitig Opfer und Täter. Lindorfer berichtet von einem 13-Jährigen, der von Rebellen gezwungen wurde, die eigene Mutter zu erschießen. Wie die meisten Kindersoldaten wird er von schweren Schuldgefühlen gequält.

    "Schuld ist eines der großen Themen der Trauma-Arbeit", weiß Lindorfer. "Gerade in solchen Fällen eröffnet die Perspektive des Glaubens Möglichkeiten des Heilens." Von der Spiritualität als Stütze bei der Bewältigung eines Traumas ist sie überzeugt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Ugandas sind Christen, für sie ist der christliche Glaube eine große Ressource. Der Glaube hilft ihnen, im täglichen Wahnsinn eines andauernden Bürgerkrieges die Hoffnung auf Menschlichkeit nicht ganz zu verlieren - auch wenn diese abgrundtief unmenschlichen Erfahrungen sie selbst in ihrem Glauben an diesen "lieben Gott" auch massiv herausfordern.

    Doch nicht nur für die Betroffenen, auch für die Helfer selbst spielt nach Ansicht von Simone Lindorfer Spiritualität eine wichtige Rolle. Sie schildert den Fall einer jungen Frau, die mit ansehen musste, wie ihre Familie umgebracht wurde, die selbst mehrfach vergewaltigt wurde und nun an Aids sterben wird. Manchmal müssten die Therapeuten erkennen, dass es Menschen gibt, denen sie mit den klassischen therapeutischen Ansätzen nicht mehr helfen können. Lindorfer sagt: "Ich bin häufig an meine Grenzen gestoßen - als Psychologin und als Theologin." Aber in diesen Momenten werde Glauben zum Ernstfall: "Ich weigere mich zu glauben, dass das alles ist, was diese Menschen erleben." Obwohl sie die christliche Religion in der Praxis auch als unterdrückend und versklavend kennen gelernt habe, sei sie bei ihrer Arbeit mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, dass Trauma-Arbeit für sie einer Perspektive der Transzendenz bedarf, obwohl - und das betont sie mit Nachdruck - Glaube kein Trostpflaster oder Beruhigungsmittel gegen die Abgründigkeit menschlicher Gewalt sein darf. An einen Gott zu glauben, der "alles so herrlich regieret", und den Überlebenden des Völkermordes in Rwanda zuzuhören, hinterlasse mehr Ohnmacht als Trost und mache diese Geschichten auch nicht leichter ertragbar. Aber nicht an ihn zu glauben, würde die Arbeit für Simone Lindorfer persönlich unmöglich machen.

    Lindorfer wollte ihre Erfahrungen, die Möglichkeiten und Grenzen ihrer praktischen Arbeit reflektieren. In der Theologie fand sie das Forum, um ihr Thema auf diese weit gefächerte Weise abzuhandeln: Sie betrachtet die Erfahrungen von Frauen in Ostafrika zunächst aus einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel und bringt sie in Zusammenhang mit der afrikanischen feministischen Theologie einerseits und der westlichen Trauma-Psychologie andererseits. Wichtige Inspiration für Lindorfers theologische Überlegungen und die psychologische Praxis war aber vor allem das Konzept der Befreiungspsychologie, das der Jesuit Ignacio Martín-Baró in den 1980er-Jahren im ebenfalls von Krieg und Unterdrückung gekennzeichneten El Salvador entwickelt hat. Über die Darstellung ihrer Fallstudien, die neben den Kriegserfahrungen in Uganda auch die Themen Beschneidung bei Mädchen und HIV-Prävention umfassen, gelangt Lindorfer zu einer Erweiterung des Konzepts der Befreiungspsychologie: Aus ihrer eigenen Praxiserfahrung heraus befürwortet sie die Integration der Spiritualität in die Trauma-Arbeit. Sie hofft, mit ihrer Arbeit den Kontakt zwischen der Befreiungspsychologie und der praktischen Theologie zu bereichern und Raum für das Thema "Gewalt gegen Frauen" in den theologischen Diskursen zu schaffen. (7718 Zeichen)

    Weitere Informationen:

    Frau Dr. Simone Lindorfer ist nur bis zum 1. November 2005 in Tübingen erreichbar:

    Tel. 0 70 71/96 48 33
    E-Mail simone.lindorfer@gmx.de

    Der Pressedienst im Internet unter: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html. Unter dieser Adresse sind auch einige Abbildungen zu finden, die die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf Anfrage per E-Mail zuschicken kann.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Philosophie / Ethik, Psychologie, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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