Leitlinien sind keine Richtlinien
Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin warnt vor Einschränkung der Therapiefreiheit
Wiesbaden - Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) betonte auf dem Herbstsymposium ihrer Korporativen Mitglieder, dass aus Leitlinien keine rechtlich bindenden Richtlinien werden dürfen. Dass vorgegebene Behandlungsanweisungen eine individuelle medizinische Versorgung ablösen, sei inakzeptabel. Darüber hinaus müsse die Entwicklung medizinischer Leitlinien in erster Linie in Händen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften liegen.
In der Veranstaltung mit dem Titel "Wer bestimmt die Leitlinien in der Medizin?" diskutierte die DGIM mit Vertretern ihrer Korporativen Mitglieder, wie Leitlinien in der Praxis verstärkt dem Arzt helfen und damit dem Patienten nutzen können. Sie erörterten die von Leitlinien ausgehende Gefahr eines Missbrauchs, sobald diese rechtskräftig werden: Befolgt der Arzt sie nicht, drohen ihm im Zweifelsfall Haftungsansprüche. "Leitlinien sind hilfreiche Empfehlungen für die Praxis", betonte Professor Dr. med. Werner Seeger, Vorsitzender der DGIM 2005/2006. Sie ließen Spielraum für individuelle Entscheidungen des Arztes, der mit der Therapie bestmöglich auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Patienten eingehen will, so der Direktor der Medizinischen Klinik II Klinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Bislang entwickeln und bestimmen die jeweiligen wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften unter dem Dach ihrer Arbeitsgemeinschaft (AWMF) die Leitlinien in der Medizin - unter Mitsprache von niedergelassenen Ärzten und Patientenvertretern. Mit Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) im Jahr 2004 und dessen Auftrag, evidenzbasierte Leitlinien für bestimmte Krankheitsbilder zu bewerten, zeichne sich jedoch ein "Wandel von Leitlinien hin zu Richtlinien" ab, sagte Professor Seeger.
Das IQWIG ist eine von den Krankenkassen mitgetragene Stiftung öffentlichen Rechts. Es gibt Empfehlungen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Dieser kann daraus Richtlinien ableiten, die wiederum für Leistungsträger der ambulanten Versorgung und für Krankenhäuser bindend sind. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass vom IQWIG geprüfte Leitlinien zu Richtlinien werden. Dies würde die Therapiefreiheit extrem einschränken. Denn das IQWIG entscheidet wesentlich unter ökonomischen Gesichtspunkten. Schon heute schließt eine Arzneimittel-Richtlinie vom Juni 2004 beispielsweise blutdrucksenkende "Kalziumantagonisten" aus der primären medikamentösen Versorgung aus - obwohl ihre Wirkung in der Behandlung wissenschaftlich anerkannt ist. Ärzte dürfen sie weder einsetzen, noch würden die Medikamente finanziert.
Die AWMF hat im Juni 2005 eine aktuelle Fassung des "Deutsche Leitlinien Bewertungs-Instrument" (DELBI) mit verabschiedet. Für die Beurteilung einer Leitlinie sei diese umfassende "Leitlinien-Checkliste" mehr als ausreichend, sagte Dr. rer. nat. Ottfried Zierenberg, Sprecher der Korporativen Mitglieder der DGIM aus Haar. "Die systematische Entwicklung von Leitlinien durch die Fachgesellschaften unter Federführung der AWMF hat sich - nach gewissen Lernprozessen - in den letzten Jahren hervorragend bewährt", betonte zudem Professor Dr. med. Ulrich R. Fölsch von der Kommission der Korporativen Mitglieder der DGIM in Wiesbaden. Dabei sei es unerlässlich, Leitlinien auf ihre Wirkung, ihre Wirksamkeit und Praktikabilität in der Anwendung im Alltag und auch ihre ökonomischen Effekte hin zu prüfen, hebt der Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel hervor. Unabdingbar sei jedoch ebenso, dass die Fachgesellschaften die Bewertung von Leitlinien führend verantworten.
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