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15.11.2005 11:55

Wissenschaftler untersuchen Katastrophen aus historischer Sicht

Ursula Zitzler Stabsstelle Hochschulkommunikation
Universität Stuttgart

    Katastrophale Überschwemmungen, Erdbeben, Unwetter, Seuchenzüge, Hungerkrisen oder auch Brände sind in der Geschichte der Welt immer wieder vorgekommen. Heutzutage stehen derartige Ereignisse in einer durch die Massenmedien bestimmten Welt vermehrt im Blickfeld der Öffentlichkeit und ziehen gerade in jüngster Zeit durch Naturkatastrophen und Terroranschläge verstärkte Aufmerksamkeit auf sich. Vor allem die kulturhistorische Dimension sich wiederholender Katastrophen steht seit den 1990-er Jahren vermehrt im Blickpunkt der Wissenschaft. Dabei geht es vorrangig um Ereignisse im Zusammenhang mit geophysikalischen, klimatischen und biologischen Naturgefahren, seltener im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und techn(olog)ischen Risiken. Ein Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlern untersucht nun mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft historische Katastrophen aus kulturvergleichender Perspektive. Unter der Federführung von Dr. Gerrit Jasper Schenk vom Historischen Institut der Universität Stuttgart und seines Zürcher Kollegen Dr. Franz Mauelshagen haben sich Historiker unterschiedlicher Epochen und Spezialisierungen sowie historisch arbeitende Wissenschaftler aus benachbarten Disziplinen (Orientalistik, Sinologie, Geographie) aus Deutschland, der Schweiz, England und Neuseeland zusammengefunden.

    Von den wiederkehrenden Arnofluten in Florenz
    Dieser kulturhistorische Ansatz zur Untersuchung von Katastrophen lässt sich am Beispiel einer verheerenden Flut in Florenz im November 1333 veranschaulichen: Der nach einer längeren Regenperiode mächtig angeschwollene Arno riss die Brücken im Stadtgebiet mit sich, die Quartiere längs des Flusses wurden überflutet, Mauern stürzten ein und Menschen ertranken. Wer heute durch Florenz flaniert, findet auf der berühmten Ponte Vecchio, hoch über den Köpfen der Touristen, zwei Wasserstandsanzeiger, die die Höhe der Arnoflut mahnend in der Erinnerung halten. Der Florentiner Geschichtsschreiber, Kaufmann und Politiker Giovanni Villani erzählt in seiner Chronik von dieser Flut und gibt auch die Diskussionen der Zeitgenossen über die Ursachen der Katastrophe wieder: Handelte es sich um den Lauf der Natur oder einen (warnenden oder strafenden) Eingriff Gottes? Villani erörtert die meist von Astrologen entwickelten, zeitgenössischen Erklärungsmodelle, wie etwa eine ungünstige Konstellation von Gestirnen. Doch die Florentiner blieben dabei nicht stehen: Der Blick auf kaum bekannte Reaktionen und Maßnahmen der Kommune Florenz öffnet sich, wenn neben Chroniken und Predigttexten auch die teilweise erhaltene Überlieferung der städtischen Verwaltung in die Untersuchung einbezogen wird. Die in Akten und Amtsbüchern festgehaltenen Maßnahmen erlauben Rückschlüsse auf Einstellungen der Zeitgenossen, die als 'Theorien der Praxis' des Umgangs mit Katastrophen gleichberechtigt neben bekannte Deutungs- und Reaktionsschemata treten. Man findet hier viele pragmatische Maßnahmen, mit denen die Folgen der Katastrophe im Alltag gemildert wurden: Die Errichtung von Behelfsbrücken, die Einrichtung von Ersatzmärkten oder Steuersenkungen für Getreideimporteure zur Sicherstellung der Verorgung. Die politische Führung war keineswegs zukunftsblind und stellte sich den Problemen auch auf längere Sicht. So diskutierte der Stadtrat, ob die Verbauung des Flussbettes mit Mühlen und Fischreusen zu einem Rückstau geführt und dadurch ursächlich an der Überschwemmungskatastrophe beteiligt gewesen war. Er versuchte, durch Bauverbote am Flussbett das Risiko erneuter Überschwemmungen zu minimieren.
    Doch die Mittel und Maßnahmen - ohnehin nur lasch befolgt - reichten nicht aus. Die nächsten Überschwemmungen ließen nicht lange auf sich warten: Schon im Dezember 1334 riss der Arno die hölzernen Behelfsbrücken erneut mit sich, im November 1345 überrollte die nächste Flutwelle die Stadt. Dieses wiederkehrende Problem könnte sogar die nur vage rekonstruierbaren, großangelegten Planungen einer Arno-Umleitung um Florenz herum durch Leonardo da Vinci (1503/04) angeregt haben. Doch trotz vieler Planungen und zahlreicher Maßnahmen blieb es dabei: Mindestens einmal in jedem Jahrhundert - zuletzt am 4. November 1966 - trat der Arno über seine Ufer und überschwemmte die Stadt. Die Metropole Florenz gedieh und gedeiht dennoch. Die Fähigkeit zur städtebaulichen, sozialen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Anpassung an diese immer wiederkehrenden katastrophalen Umstände stellt offenbar einen nicht zu vernachlässigenden, durchaus nicht nur destruktiven, sondern in seinen Langzeitwirkungen konstruktiven Faktor der Entwicklung von Stadt, Gesellschaft und Kultur dar.

    Katastrophen als Agenten kulturellen Wandels
    So untersuchen die in dem Netzwerk kooperierenden Wissenschaftler, wie Katastrophen als formatives Element auf Gesellschaften und Kulturen einwirken, die ihrerseits spezifische Wege des Umgangs mit Katastrophen entwickeln. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes, der die Verwundbarkeit von Kulturen und Gesellschaften als das Ergebnis komplexer, historisch induzierter Kausalzusammenhänge im Schnittpunkt von Natur und Kultur begreift, richten sie ihren Blick auf kulturspezifische Modelle der Deutung, Bewältigung und Prävention von Katastrophen. Durch die Thematisierung der Historizität von Katastrophen werden nicht nur deren destruktive, sondern auch konstruktive Auswirkungen betrachtet, geraten die Formen des Umgangs mit Gefahren und Katastrophen gerade angesichts von Wiederholungserfahrungen und erwartungen als Agenten kulturellen Wandels in den Mittelpunkt des Interesses. Katastrophen werden nicht nur, wie die jüngere Forschung betont, sozial und kulturell konstruiert, sondern sie wirken ihrerseits in unterschiedlichem Ausmaß an der Kon-struktion von Kulturen und Gesellschaften mit. Dabei spielen kulturell überformte und medial vermittelte individuelle und kollektive Erinnerungen an Katastrophen, spezifisches lokales Wissen, praktische Erfahrungen und theoriegeleitete Analysen eine, je nach Kultur und Gesellschaft, einzigartige Rolle.

    Blick für aktuelles Katastrophenmanagement schärfen
    Der einheitlich historisch ausgerichtete methodische Zugriff eröffnet angesichts der Bandbreite untersuchter Epochen und Kulturen in der Zusammenschau diachrone und kulturvergleichende Perspektiven. Diese ermöglichen es, den Blick für aktuelle Probleme des Katastrophenmanagements zu schärfen. Bislang bleiben lokales Wissen und bewährte Praktiken zum Schaden aller Beteiligten oft ungenutzt. Historisch forschende Wissenschaftler könnten folglich einen Beitrag zum Verständnis aktueller Probleme und Chancen des Katastrophenmanagements leisten, die aus soziokulturellen Besonderheiten des Umgangs mit Katastrophen resultieren. Eine erste Zusammenschau der Arbeit des Netzwerks bietet eine Tagung an der Universität Stuttgart im März 2006.

    Weitere Informationen bei Dr. Gerrit J. Schenk, Historisches Institut der Universität Stuttgart, Abteilung Mittlere Geschichte, Keplerstr. 17/8, 70174 Stuttgart, Tel. 0711/121 3453; e-mail: sekr.mittl.geschichte@po.hi.uni-stuttgart.de.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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