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13.12.2005 07:10

Dreißig werden - Freude oder Frust?

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Empirische Kulturwissenschaft

    Der 30. Geburtstag ist für viele Menschen ein einschneidendes Erlebnis. Die meisten End-Zwanziger sehen dem folgenden Lebensjahrzehnt mit gemischten Gefühlen entgegen. Der Kulturwissenschaftler Christian Marchetti hat sich dem Phänomen des Dreißigsten in seiner Magisterarbeit gewidmet. Er erklärt, welche Bedeutung die Menschen dieser Altersschwelle beimessen und wie 30-Jährige mit ihrem Leben jenseits der Zwanzig umgehen.

    Tübinger Kulturwissenschaftler untersucht die Bedeutung eines runden Geburtstags

    Die große Krise oder ein enthusiastischer Blick in die Zukunft? Den 30. Geburtstag erleben viele als einen harten Einschnitt. Die Zeit der noch jugendlichen Zwanziger ist vorbei, und beim Blick in den Spiegel fallen immer mehr Zeichen des Älterwerdens ins Auge: Fältchen, ein leichter Bauchansatz und dünner werdendes Haar. Dass der Übergang ins 31. Lebensjahr eine deutliche Schwelle markiert, lässt sich auch an der wachsenden Menge der Ratgeberliteratur ablesen: 'Super - endlich 30! Große Krise oder endlich durchstarten' - so oder ähnlich klingen die Titel der Bücher, die uns dabei helfen sollen, die Hürde zum Dreißigsten mehr oder weniger sanft zu nehmen. Aber auch in Kreisen von End-Zwanzigern wird deutlich, dass dem Übergang ins nächste Lebensjahrzehnt besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Selbst Menschen, die Geburtstagsfeiern normalerweise kategorisch ablehnen, nehmen den Dreißigsten zum Anlass, endlich mal wieder alle ihre Freunde und Bekannte einzuladen. Manch anderer hingegen begegnet diesem Geburtstag eher mit betonter Gelassenheit oder Desinteresse. Dies hält dann oftmals nur solange an, bis der erste Gratulant mit Sprüchen wie "Willkommen im Club" die abgeklärte Fassade des Jubilars zum Einsturz bringt. In seiner Magisterarbeit "Dreißig werden. Ethnographische Erkundungen an einer Altersschwelle" hat Christian Marchetti vom Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen unterschiedliche Arten des Umgangs mit dem 30. Geburtstag untersucht.

    Mehrere Testpersonen hatten sich bereit erklärt, den Kulturwissenschaftler auf ihre Geburtstagsfeiern einzuladen, ihre persönlichen Erlebnisse mitzuteilen, Fragebögen auszufüllen und Bilder über ihr bisheriges und zukünftiges Leben zu zeichnen. Marchetti ging es nicht um eine repräsentative Untersuchung. Ihn interessierte eine qualitative Vorgehensweise, die es ihm ermöglichte, zu erforschen, welche Bedeutung dem 30. Geburtstag zugeschrieben wird und wie dies geschieht. Dabei hat Marchetti ausschließlich Männer in seine Untersuchung einbezogen. Aber warum ausgerechnet der 30. Geburtstag? "Der 30. Geburtstag ist im popkulturellen Bereich sehr populär, das zeigen Bücher wie 'Herr Lehmann' oder 'Generation Golf'", sagt Marchetti. "Der 30. Geburtstag wird als eine bedeutsame Schwelle dargestellt, an der man sich mit seiner eigenen Biografie auseinandersetzen muss und an der häufig der Wunsch entsteht, dem Leben von nun an einen Sinn zu geben."

    Schon während seines Studiums hat sich der Kulturwissenschaftler mit runden Geburtstagen beschäftigt. Dabei untersuchte er den "Ritualcharakter" des Feierns. Als Ritual bezeichnet er "gemeinschaftlich vollzogenes, sinnvolles und Sinn erzeugendes Handeln". Das bedeutet, dass es bei Geburtstagsfeierlichkeiten nicht nur darum geht, das bisher Erreichte des Jubilars in Szene zu setzen. Vielmehr können verschiedene Aspekte der sich wandelnden Rolle des Geburtstagskindes beleuchtet werden. So beobachtete Marchetti beispielsweise, wie beim 50. Geburtstag eines Mannes nicht allein das ausgelassene Feiern im Vordergrund stand, sondern vielmehr die Demonstration des bisherigen und künftigen beruflichen wie sozialen Erfolgs. Der Sechzigste einer Hausfrau hingegen diente der festlichen Lobpreisung ihrer Großmutterschaft und schrieb sie so auf diese Rolle fest.

    Auch der 30. Geburtstag trägt in den meisten Fällen rituelle Züge. So verbringt der Jubilar häufig viel Zeit damit, einen passenden Ort für die Feierlichkeiten zu finden, zu planen, Einladungen zu gestalten und Vorbereitungen zu treffen. Und auch die Gäste warten nicht selten mit musikalischen oder witzigen Darbietungen auf, in denen sie ihr Bild des Gefeierten darstellen. Dem Kulturwissenschaftler zufolge sorgen solche Riten nicht nur für Vergnügen oder Abwechslung, sie dienen gleichzeitig der Bewältigung des Alltags. Im Geburtstagsfest vereinen sich feierliche, geregelte und geplante Abläufe mit festlichem Überschwang. So wird einerseits ein Ideal des Alltags inszeniert und diesem - sonst eher routiniert ablaufenden - Alltag ein Sinn gegeben. Andererseits, so Marchetti, "kann man das Fest auch als temporäres Entrinnen aus der Zivilisation ansehen, als ein Überbleibsel der 'primitiven Orgie'". Der Geburtstag gliedert den Einzelnen so in den gesellschaftlichen Wertehorizont ein und stärkt zugleich seine Individualität.

    Der Kulturwissenschaftler erklärt, der 30. Geburtstag werde oft als "Übergangsritus" inszeniert, als Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Dies kann aber eigentlich nur dann stimmen, wenn der Jubilar auch tatsächlich in eine neue Phase übertritt, eine neue gesellschaftliche Rolle einnimmt oder sich geografisch verändert. Der 30. wird von vielen Betroffenen als der endgültige Übergang ins Erwachsenenleben gesehen. Problematisch kann es werden, wenn mit diesem empfundenen Übergang keine tatsächliche Veränderung einhergeht. Je nach sozialer Stellung zeigen sich hier auch Unterschiede im Umgang mit dem 30. Geburtstag: Ein Arbeiter oder Handwerker etwa, der in diesem Alter schon Familie hat und seit Jahren berufstätig ist, erlebt den Dreißigsten weniger als bedeutsamen Eintritt in eine neue Phase, sondern als schönen Anlass zu feiern oder auch als lästige Pflichtveranstaltung. Bei vielen Akademikern hingegen ist der Lebensweg nach dem Studienabschluss häufig noch unklar. "Wer noch keine Arbeit oder wenigstens Kinder hat, empfindet den Dreißigsten als krisenhafter", erklärt Marchetti. "Viele 30-Jährige leben heutzutage ein jugendliches Leben, obwohl sie nicht mehr zur Generation der Jugendlichen zählen. Sie sind aber gleichzeitig auch nicht per se erwachsen. Das bedeutet, dass das tatsächliche Alter und das soziale Alter nicht mehr übereinstimmen. Solche empfundenen Defizite stauen sich am 30.Geburtstag an, und die rituelle Inszenierung eines Übergangs soll helfen diesen Druck abzubauen, indem Sinn erzeugt wird."

    Ein weiterer Grund für die Suche nach Halt im Ritual ist, dass der bisherige und auch der zukünftige Lebenslauf vieler End-Zwanziger in den seltensten Fällen gradlinig verläuft: "Das neue Biografie-Modell ist nicht mehr linear. Die Menschen müssen mit Brüchen in ihrer Biografie umgehen. Und die Lücken müssen sie selbst mit Sinn füllen."

    Marchetti selbst hat den 30. Geburtstag gerade erst überstanden - ohne schwerwiegende Folgen übrigens, was daran liegen mag, dass er kurz zuvor geheiratet und eine Stelle bekommen hat. "Und Sinn habe ich auch genug produziert, immerhin habe ich ein Buch darüber geschrieben." Doch auch diejenigen, bei denen sich angesichts des neuen Lebensjahrzehnts eher Frust breitmacht, sollten sich, seinem Rat zufolge, an ihrem Geburtstag nicht zu Hause verkriechen. Obwohl Marchetti keinen psychologischen Ratgeber geschrieben hat, ist er davon überzeugt, dass eine Feier zum Dreißigsten immer empfehlenswert ist. "Zumindest kann man gemeinsam mit seinen Gästen ein schönes Fest erleben. Natürlich wird man an solch einem Geburtstag in gewisser Weise zum 'Objekt' für die anderen. Aber das hat ja auch etwas Schönes."

    Und zumindest die baden-württembergischen 30-Jährigen können den nächsten Jahren noch voller Gelassenheit entgegenblicken. Denn "gescheit" wird man im Schwabenland bekanntermaßen sowieso erst mit vierzig. (7240 Zeichen)

    Nähere Informationen:

    Seine Forschungsergebnisse hat Christian Marchetti auch in einem Buch zusammengefasst:
    Christian Marchetti: Dreißig werden. Ethnographische Erkundungen an einer Altersschwelle. Tübinger Vereinigung für Volkskunde, Bd. 28 der Reihe Studien und Materialien. Tübingen 2005

    Christian Marchetti ist momentan in Wien zu erreichen:
    E-Mail christian.marchetti@online.ms
    Tel. 00 43 699 81915914

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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