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27.09.1999 11:55

75 Jahre Sportwissenschaft an der Martin-Luther-Universität

Ingrid Godenrath Stabsstelle Zentrale Kommunikation
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

    Das Institut für Sportwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg führt am 8. Oktober 1999 ein Kolloquium zum Thema "Paradigmenwechsel in der Sportwissenschaft" durch, dessen Anliegen darin besteht, die Entwicklung der Sportwissenschaft unter historischem Aspekt zu betrachten, um zugleich die aktuellen Wandlungen des Wissenschaftsverständnisses zu analysieren.
    Neben dem unmittelbaren Anlaß - 75 Jahre Sportwissenschaft an der Martin-Luther-Universität - sollen am Beispiel der hiesigen Entwicklung Veränderungen im Grundverständnis über Wesen, Funktion und Bedeutung der Sportwissenschaft deutlich gemacht werden. Neben der Bestandsaufnahme können Folgerungen für Schwerpunkte der Wissenschaftsentwicklung, die Selbstdarstellung der Sportwissenschaft in der Öffentlichkeit und die inhaltliche Gestaltung des Studiums unter Beachtung des Wandels der Sportberufe abgeleitet werden.
    Die beteiligten Wissenschaftler aus Bielefeld, Halle. Heidelberg und Kiel gehen auch der Frage einer eventuellen "Sinnkrise" der Sportwissenschaft nach und versuchen zu klären, ob sich Sportwissenschaft gegenüber der Gesellschaft rechtfertigen muß. Darüber hinaus werden Wechselbeziehungen zwischen Sport und Bewegung, Sport und Training, Sport und Gesundheit, Sport und Gesellschaft sowie Sport und Erziehung diskutiert. Im Anschluß an das wissenschaftliche Programm findet ein Absolventenkolloquium über "Sportberufe in Entwicklung - Konsequenzen für eine moderne Ausbildung" statt. Eröffnet wird die Veranstaltung am Freitag, dem 8. Oktober 1999, 10.00 Uhr, in Lehmann's Villa (06108 Halle, Burgstraße 46).

    Zur Geschichte

    Nach dem I. Weltkrieg begannen Turnen und Sport aus vielerlei Gründen auch an den Universitäten eine Rolle zu spielen. Leibesübungen und Wettkampfsportarten sollten, besonders bei völkisch-nationalistischen Studentenverbindungen, nicht zuletzt die infolge des Versailler Vertrages wegfallende militärische Ausbildung kompensieren. Schon seit 1909 fanden in Leipzig alle vier Jahre (mit Unterbrechung durch den I. Weltkrieg) "Akademische Olympien" statt. Daraus entstand auf dem 2. Deutschen Studententag 1919 die Forderung, hauptamtliche Hochschulturn- und -sportlehrer einzustellen. Die hallesche Universität kam ihr 1923 mit der Einstellung Dr. R. Conrads nach. Das "Deutsch-Akademische Olympia" 1924 in Marburg wirkte dann als Initialzündung für weitere Veränderungen der Leibesübungen im Rahmen des Ausbildungskanons an der Universität Halle. Die begeisterten Teilnehmer brachten ein Plakat mit, auf dem für das Sommersemester 1924 das "Institut für Leibesübungen der Universität Marburg" Kurse für den Hochschulsport und für die Ausbildung von Turn- und Sportlehrern avisierte.
    Ministerialerlasse vom 6. und 10. Juni 1924 forderten Stellungnahmen des Senats der Universität Halle zum "Marburger Arbeitsplan" ein und kündigten zugleich eine Beratung über beabsichtigte Institutsgründungen am 21. Juli 1924 in Marburg an. Die weitere Entwicklung wurde dadurch begünstigt, daß es in Halle bereits seit 1912 einen Akademischen Ausschuß für Leibesübungen und seit 1921 das Studentische Amt für Leibesübungen gab. Nach Beratung mit den Senatsmitgliedern veröffentlichen die Vorsitzenden beider Gremien gemeinsam mit dem Hochschulturn- und -sportlehrer zum Wintersemester 1924/25 ein dem Marburger Vorbild entlehnten "Arbeitsplan", da der Senat zu dem Ergebnis gekommen war, "daß wir dieses Vorbildes kaum bedürfen, da wir an unserer Universität im wesentlichen dieselben Einrichtungen, Übungen und Vorlesungen haben wie dort".
    Bedenken, Hinderungsgründe personeller und materieller Art, insbesondere aber die Forderung verschiedener zentraler Institutionen, alle Philologiestudenten (Lehramtsanwärter) in den obligatorischen Hochschulsport einzubeziehen, verzögerten die Umsetzung des Vorhabens, so daß es letztlich erst zu Beginn des Wintersemesters 1925 (ab 30. September 1925) auch durch Ministerialerlaß voll legitimiert zum Tragen kam.
    An allen preußischen Universitäten sollten nun für sämtliche Studierenden des höheren Lehramtes obligatorisch zwei Semester Sportausbildung eingeführt werden - das löste teilweise heftige Kritik aus. Auch das Bemühen um wissenschaftliche Untersetzung dieser Studien rief seitens der Vertreter etablierter Wissenschaften Widerspruch hervor. Selbst Befürworter eines vielfältigen akademischen sportlichen Lebens wehrten sich gegen die Anerkennung der Leibesübungen als Ausbildungsfach mit wissenschaftlichem Anspruch. Besonders die Philosophischen Fakultäten in Halle und Köln verwahrten sich beim zuständigen Minister sowohl gegen den Pflichtsport der Philologen als auch gegen den wissenschaftlichen Anspruch der Leibeserziehung, da "Sport und Wissenschaft grundsätzlich verschiedene Dinge" seien.
    Derartige Widerstände wirkten bis in die dreißiger Jahre hinein und sind unter wissenschaftshistorischem Aspekt aus mehreren Gründen verständlich - zählte doch ein großer Teil der Befürworter des "Pflichtsports" und der Institutionalisierung der Leibeserziehung zu den Wegbereitern und Akteuren der nationalsozialistischen Diktatur und des Totalitarismus in Deutschland. Für manchen Gegner von "Leibesübungen" an deutschen Universitäten mag schon in der Weimarer Zeit die politische Instrumentalisierung des Universitätssports unheilvolle Visionen heraufbeschworen haben.
    Mit der Durchsetzung der Leibeserziehung als akademisches Lehrfach vollzog sich der erste Paradigmenwechsel vom schon jahrhundertelang betriebenen Universitätssport zu einem Studienfach mit wissenschaftlichem Anspruch.
    Die Institutionalisierung der Leibesübungen innerhalb der akademischen Ausbildung zwang zur Systematisierung von Ausbildungsgrundlagen und Methoden Schritte sowie zur Einbeziehung von Erkenntnissen aus Wissenschaftsdisziplinen, die man auch als "Mutterwissenschaften" bezeichnete, z. B. Medizin, Geschichte, Pädagogik, teilweise Psychologie und Soziologie. Damit wurde der Grundstein für den Ausdifferenzierungsprozeß der heutigen Sportwissenschaft gelegt, der bei weitem noch nicht abgeschlossen scheint.
    Nach der Anfangsphase Mitte der 20er Jahre dauerte es noch gut vierzig Jahre, bevor das Fach Sportwissenschaft - zumindest in einem Teil Deutschlands, in der DDR - tatsächlich als etablierte Wissenschaftsdisziplin Akzeptanz fand. In der alten Bundesrepublik mag das noch mehr Zeit beansprucht haben.

    Prof. Dr. Theo Austermühle / Dr. Margarete Wein

    Nähere Informationen:
    Prof. Dr. Theo Austermühle
    Tel.: 0345 / 552 44 24
    Fax: 0345 / 552 70 54
    e-mail: austermuehle@sport.uni-halle.de


    Weitere Informationen:

    http://www.sport.uni-halle.de/kolloq1.htm


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Sportwissenschaft
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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