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11.10.1999 18:28

Motzener Thesen zu 10 Jahren Psychiatriereform verabschiedet

Patrizia Reicherl Stabsstelle Hochschulkommunikation
Fachhochschule Potsdam

    Zum Abschluss der Fachtagung "10 Jahre Psychiatriereform in den neuen Bundesländern" verabschiedeten die eilnehmer/innen "12 Motzener Thesen", mit denen sie Bilanz ziehen. Die Tagung fand am 8./9. Oktober in der Fontane-Klinik in Motzen statt.

    Die als Wagnis angekündigte Tagung ist unter lebhaftem Interesse der psychiatrischen Öffentlichkeit mit großem Erfolg zu Ende gegangen. Die Psychiatriereform in den neuen Bundesländern wurde auf der Veranstaltung - und dies war das Innovative der Bilanzierung - gemeinsam von Nutzern und Anbietern ambulanter und stationärer psychiatrischer
    Dienstleistungen kritisch unter die Lupe genommen.

    Auf der Tagung haben 300 TagungsteilnehmerInnen in einem trialogischen Diskussionsprozeß wichtige Aspekte psychiatrischer Hilfen erörtert. Die Ergebnisse der Zwischenbilanz sind in zwölf "Motzener Thesen" niedergelegt und verabschiedet worden. Die Zwischenbilanz soll künftig
    in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.

    Die Bewertungen und Forderungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Psychiatrie in den neuen Bundesländern werden hiermit von betroffenen Patienten und Angehörigen, die sich durch ihre langjährigen Erfahrungen zu Experten in der Beurteilung psychiatrischer Arbeit entwickelt haben, mit Fachleuten demokratisch ausgehandelt der Öffentlichkeit übergeben.

    Veranstalter der Tagung waren die Fachhochschule Potsdam, die Fontane-Klinik Motzen, der Landkreis Dahme-Spreewald und die Brandenburger Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Die Tagung wurde gefördert durch die Robert-Bosch-Stiftung, das Land Brandenburg, Janssen Cilag und Novartis.

    Weitere Informationen im Internet http://www.psychiatriereform.de/ und bei Prof. Dr. med. Peter Stolz, FH Potsdam, Tel./Fax 030-313 39 53 und
    Andreas Horstamnn, Chefarzt Fontane-Klinik, Tel. 033769/86128, Fax 033769-86 104


    Motzener Thesen

    "Handele in deinem Verantwortungsbereich so, daß du mit dem Einsatz aller deiner Ressourcen immer bei denen beginnst, wo es sich unter marktgesetzlichen Gesichtspunkten am wenigsten lohnt." (Klaus Dörner)

    1. Die politische Wende wurde auch in der Psychiatrie der DDR als Befreiung erlebt. Es entstand für kurze Zeit ein politisches, ökonomisches und soziales Vakuum. Der psychiatrische Aufbruch seit 1990 hat kreative Potentiale freigesetzt, aber psychisch Kranke, Angehörige und Professionelle auch teilweise überrollt. Das Gesundheits- und Sozialsystem Westdeutschlands ist den neuen Bundesländern übergestülpt worden. Es wird als unangemessen empfunden, den Beginn der Psychiatriereform als Stunde Null der Sozialpsychiatrie im Osten anzusehen. Im Bereich Arbeit und beruflicher Rehabilitation verfügte die DDR-Psychiatrie über wesentlich bessere Möglichkeiten.

    2. Angst und Autoritätsfurcht sind nicht allein auf die DDR-Psychiatrie beschränkt. Erfahrungen von Unterdrückung und das Fehlen eigenständiger Interessenvertretungen von Psychiatriepatienten und Angehörigen haben die Auflehnung gegen entmündigende Behandlungserfahrungen und unmenschliche Verwahrpraktiken erschwert. Die Einbindung in Arbeitskollektive, die Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie das Defizit an demokratischen Aushandlungsprozessen haben den Aufbau von Selbsthilfegruppen verhindert, ebenso wie ein geringerer beruflicher Leistungsdruck entlastend wirkte.

    3. Die Zwischenbilanz zur gegenwärtigen Situation der Psychiatriereform in den neuen Bundesländern hat gezeigt, daß die Kompetenzen, der Erfahrungsschatz und das Engagement von Betroffenen und Angehörigen bei der Neuorientierung seit der Wende ungenutzt blieb. Damit sind wesentliche die Qualität psychiatrischer Arbeit bestimmende Ressourcen verschenkt worden. Psychiatrische Fachlichkeit erfordert, Nöte, Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen und Angehörigen nicht nur wahr- und ernstzunehmen, sondern auch in die professionellen Therapiekonzepte aufzunehmen. Ohne den Trialog zwischen psychiatrieerfahrenen Menschen, Angehörigen und Fachleuten verkommt psychiatrische Professionalität zu medizintechnischen Praktiken.

    4. Ein wesentlicher Teil psychiatrischer Krankenhausbehandlungen und ca. 80% der Heimunterbringungen sind bei bedarfsentsprechenden kommunalen Unterstützungsmöglichkeiten überflüssig. Deshalb entspricht sowohl dieser Anteil der einrichtungsmäßigen Unterbringungen als auch die öffentlich-rechtlich geförderte Untätigkeit beim Aufbau ambulanter Strukturen einem eklatanten Rechtsbruch und erfüllt den Tatbestand der Freiheitsberaubung.

    5. Damit diesem rechtlich und moralisch-ethischen Mißstand endlich abgeholfen wird, muß die Verteilung aller Geldmittel für psychiatrische Hilfen der kommunalen Ebene übertragen werden. Kommunen sind so auszustatten, daß sie den Ausbau der Hilfen den örtlichen Rahmenbedingungen entsprechend und an den Bedürfnisssen der Nutzer orientiert planen und finanzieren können.

    6. Das gesetzlich verankerte Recht der Betroffenen auf weitestgehende ambulante und gemeindenahe Hilfen muß endlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt werden. Für alle Beteiligten und Interessenvertretungen gilt, daß die Suche nach Verbündeten in der eigenen Gemeinde und Region beginnt. Gefordert wird, regelmäßig zu überprüfen, wie Politiker ihrer Verantwortung auf dem Gebiet ambulanter
    Hilfen gerecht werden.

    7. Die stationäre Psychiatrie darf sich nicht wieder zu einer Wachstumsbranche entwickeln. Der Ausbau ambulanter Hilfen ist durch Anreize zu belohnen. Um Verschwendungen zu verhindern, wird gefordert, daß Qualitätskontrolle und Ausbau psychiatrischer Hilfen nicht - wie bisher üblich - lediglich Professionellen vorbehalten bleibt.
    Überprüfungs, Kontroll- und Planungsgremien, wie Psychiatriebeiräte, Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften und Besuchskommissionen, sind nur unter Einbeziehung der Interessenvertretungen der Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen zu berufen.

    8. Einige Stimmen haben vor einer Dämonisierung psychiatrischer Kliniken in der Befürchtung gewarnt, Krankenhäuser könnten als Rückzugs- und Schutzraum in Krisensituationen nicht mehr zur Verfügung stehen, bevor
    ambulante Alternativen geschaffen worden sind. Andere sprechen sich für die Entwicklung einer Gegenmacht auf dem Weg des Trialogs zwischen Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen aus, um die Dominanz der Landeskrankenhaus-Psychiatrie und Heime zurückzudrängen.
    Die Gleichstellung von psychisch mit körperlich Kranken kann nur in psychiatrischen Abteilungen mit Institutsambulanzen an Allgemeinkrankenhäusern gewährleistet werden. Gefordert wird auch, niedergelassener Nervenärzte in gemeindepsychiatrische Hilfen einzubinden.

    9. Betroffene und Angehörige beschreiben Fähigkeit und Bereitschaft der Behandler zum gemeinsamen Gespräch über psychiatrische Diagnosen, über Vor- und Nachteile von Behandlungsverfahren sowie über die psychischen und sozialen Folgen der Erkrankungen als bislang völlig unzulänglich.
    Krankheits- und Prognose-Urteile von Psychiatrern sind wesentlich geprägt von ihrer Grundhaltung zum Phänomen "psychische Störung".
    Deshalb sind der gleichberechtigte, trialogische Austausch und die Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen auf den Ebenen Ausbildung, Forschung, Gesetzgebung, Justiz, Verwaltung und Leistungserbringer Voraussetzung für eine angemessene Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen von Betroffenen und Angehörigen. Um das kommunikative Defizit unter den Beteiligten zu mindern, wird gefordert, die seit Jahren an weit über hundert Orten in
    Deutschland als sehr hilfreich sich erweisenden Psychoseseminare" zu einem Regelbestandteil professioneller Ausbildung und Praxis zu machen.

    10. Behandeln wird so zu einem Prozeß des Verhandelns und Aushandelns. Psychotische Krisen müssen als Lebens- und Lernerfahrung verstanden und ernst genommen werden. In der psychiatrischen Arbeit gibt es keine Qualität ohne Zeit. Vor Tabuthemen wie Medikamentennebenwirkungen sowie Selbsttötungsrisiken bei psychischen Erkrankungen dürfen psychiatrischen Fachkräfte in den Gesprächen mit Betroffenen und Angehörigen nicht zurückschrecken, da sonst Leid und Risiken bei Hilfesuchenden ungerechtfertigt erhöht werden. Diese beschreiben es als größte Erniedrigung, in Unwissenheit belassen zu werden.

    11. Gerade für psychisch kranke Menschen stellt Arbeitslosigkeit ein besonderes Risiko für Gesundheit und weiteren Lebensweg dar. Gefordert wird deshalb die Langzeitintegration durch Arbeit und Beschäftigungsmöglichkeiten, ersatzweise arbeitsmäßige Beschäftigungen zu Lasten der sozialen Hilfesysteme. Um die Krankheitsbenachteiligung für Betroffene und ihre Angehörigen zumindest ansatzweise auszugleichen, sind Modelle der Grundsicherung anstelle der Sozialhilfe zu erproben.

    12. Die Erfahrung der Motzener Tagung haben für 300 Tagungsteilnehmer aus den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eindruckvoll bewiesen, wie weit inzwischen der fruchtbare Trialog aller Beteiligten gelungen ist. Aus
    diesem gemeinsamen Gespräch sollen kreative Potentiale für die Öffentlichkeitsarbeit in den einzelnen Bundesländern entwickelt werden im Sinne aufklärender Bildungsprozesse.

    Verabschiedet am am 9.Oktober 1999, Fontane-Klinik, Motzen


    Weitere Informationen:

    http://www.psychiatriereform.de/


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Psychologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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