Universität Gießen rehabilitiert öffentlich Opfer von Doktorgradentziehungen unter dem Nazi-Regime
Mit einer öffentlichen Erklärung will die Justus-Liebig-Universität die Entziehung von Doktorgraden an der Universität Gießen in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland für nichtig erklären und damals vorenthaltene Verleihungen des Doktorgrades posthum vollziehen. So sollen die Opfer von Doktorgradentziehungen an der Universität Gießen unter dem Nazi-Regime namentlich genannt und öffentlich rehabilitiert werden. Bereits im Jahr 1967 hat der Senat der Justus-Liebig-Universität Gießen die Entziehung von Doktorgraden in der Zeit von Januar 1933 bis Kriegsende 1945 wegen politischer, rassischer oder religiöser Gründe einstimmig als nichtig, also als von Anfang an unwirksam bezeichnet. Dieser Beschluss wurde damals allerdings nicht der Öffentlichkeit bekannt gegeben, und es wurden auch keine weiteren Anstrengungen unternommen, die Betroffenen - so weit das damals möglich gewesen wäre - über diesen Beschluss der Universität zu informieren.
Bei einer Pressekonferenz, die heute im Senatssaal der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfand, wurde folgende Erklärung veröffentlicht, die das Präsidium und das Erweiterte Präsidium der Universität Ende letzten Jahres einstimmig verabschiedet haben:
Die Universitäten während der nationalsozialistischen Herrschaft
"Am 30. Januar 1933 begann mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten räumten in kürzester Zeit alles beiseite, was der Errichtung des von ihnen propagierten völkischen Führerstaats im Wege stand. Während auf den Straßen die Schlägerbanden ihr Unwesen trieben und willkürliche Massenverhaftungen die Gegner des Nationalsozialismus in Angst und Schrecken versetzten, brachten mehr oder weniger "legale" Maßnahmen von oben den Weimarer Rechts- und Verfassungsstaat zum Einsturz. So setzte die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" die Grundrechte außer Kraft, das "Ermächtigungsgesetz" hob das parlamentarische System auf. Die Gleichschaltungsgesetze beraubten Länder und Kommunen jeder Eigenständigkeit. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 4. April 1933 entledigten sich die neuen Machthaber der politisch und rassisch nicht genehmen Beamten. Sie grenzten mit den "eugenischen Maßnahmen" bestimmte kranke Menschen und mit den "Nürnberger Gesetzen" die gesamte jüdische Bevölkerung aus der Gesellschaft aus. Schließlich setzte die von Goebbels inszenierte "Verbrennung undeutschen Schrifttums" auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 ein unmissverständliches Signal: Für missliebige Intellektuelle, Schriftsteller und Wissenschaftler war in Deutschland kein Platz mehr.
Der Prozess der politischen und ideologischen Gleichschaltung erfasste auch die deutschen Universitäten. Ein großer Teil der Studierenden und der Professoren war schon in der Weimarer Republik von antidemokratischem Denken geprägt, und nicht wenige hatten sich bereits vor 1933 der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. So mussten sie nach dem 30. Januar 1933 oft nicht erst gezwungen werden, die Universitäten in das NS-Regime einzugliedern, sie nach dem Führerprinzip umzustrukturieren, Forschung und Lehre der NS-"Weltanschauung" anzupassen und aus der Gruppe der Professoren und der Studierenden wie auch aus der Verwaltung diejenigen auszugrenzen, die dem totalitären und rassistischen Regime der Nazis nicht genehm waren. Die Universitäten des "Dritten Reiches" erfüllten, wenn nicht in vorauseilendem Gehorsam, so doch bereitwillig das, was ihnen die NS-Machthaber im Namen des Führers befahlen. Hierzu gehörte auch die Weisung, den vom Regime bezeichneten Personen den Doktorgrad zu entziehen. Alles dies gilt auch für die Universität Gießen.
Doktorgradentziehungen in Gießen
In den meisten Fällen wurden mit der Doktorgradentziehung politische Verfolgungsmaßnahmen fortgesetzt. Sehr häufig war die Aberkennung des Doktorgrades eine Sanktionsmaßnahme nach der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und der damit verbundenen Ausbürgerung. Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit wurde der Exilant zugleich für "unwürdig" erklärt, den akademischen Grad zu führen. Die Verschärfung der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik hatte auch zur Folge, dass z.B. nach Verurteilungen wegen "Rundfunkverbrechen" und "Rassenschande" die Weiterführung des Doktortitels untersagt wurde.
Auch strafgerichtliche Verurteilungen nicht-politischer Art konnten in bestimmten Fällen als Nebenstrafe - wie schon in der Weimarer Republik - zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte einschließlich akademischer Würden führen. In anderen solchen Fällen hatten die Universitäten einen eigenen Spielraum, um über die "Würdigkeit" oder "Unwürdigkeit" eines Promovierten und damit über Fortbestand oder Entziehung des Doktortitels zu entscheiden.
An der Universität Gießen sind - bei lückenhafter Aktenlage - 51 Verfahren zur Entziehung des Doktorgrads seit 1935 nachweisbar. Hiervon waren vor allem jüdische Promovierte betroffen. Wegen Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit bzw. wegen der Einleitung von Ausbürgerungsverfahren wurden in 35 Fällen Entziehungen ausgesprochen, in einem weiteren Fall wurde das Promotionsverfahren eingestellt. In 16 Fällen wurde der Doktorgrad unter Verweis auf andere Gründe der "Unwürdigkeit" entzogen, und in einem Fall wurde das Doktordiplom verweigert. Unter diesen Fällen befinden sich vier, die nach heutigem Kenntnisstand nicht abschließend beurteilt werden können. Ihre Namen werden deshalb hier nicht genannt.
Rehabilitierung der Opfer
Angesichts des Geschehenen ist festzustellen: Unsere Universität hat am nationalsozialistischen System und an seinen inhumanen Praktiken ihren eigenen Anteil gehabt. Die Universitäten waren nicht - wie immer wieder gesagt worden ist und noch wird - bloße Objekte und als solche in ein ihr grundsätzlich fernes und fremdes Unheil verstrickt. Vielmehr waren sie selbst ein Element dieses Unrechtssystems und trugen das Ihre zu seiner Wirksamkeit und Dauer bei. So dienten die Doktorgradentziehungen auf ihrem besonderen Feld vor allem dem politischen Ziel, ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen zu diskriminieren und aus der so genannten Volksgemeinschaft auszuschließen, ihre Ehre und Würde - und letztlich sie selbst - auszulöschen.
Die Justus-Liebig-Universität sieht sich als Institution - auch wenn seitdem viele Jahrzehnte vergangen und die damals handelnden Personen längst nicht mehr im Amt sind - in der Pflicht, sich von diesen Akten politischer Willkür mit Entschiedenheit und tiefem Bedauern zu distanzieren. Der Senat der Universität Gießen hat die Doktorgradentziehungen bereits im Jahr 1967 grundsätzlich für nichtig erklärt. Dieser Beschluss wurde damals weder der Öffentlichkeit, noch den Betroffenen mitgeteilt. Eine Rehabilitierung fand nicht statt. Die Justus-Liebig-Universität erklärt deshalb heute öffentlich die Doktorgradentziehungen, mit denen die Menschenwürde der Betroffenen und die Freiheit der Wissenschaft gleichermaßen missachtet wurden, im Falle der nachfolgend genannten Personen als von Anfang an nichtig und verleiht in zwei Fällen posthum den vorenthaltenen Doktorgrad.
Dr. Albert Aaron, Juristische Fakultät
Dr. Erich Alexander, Philosophische Fakultät
Dr. Richard Aninger, Philosophische Fakultät
Dr. Max Baumgart, Juristische Fakultät
Dr. Karl Becht (posthum), Philosophische Fakultät
Dr. Fritz Bernius, Medizinische Fakultät
Dr. Gustav Birkmann (posthum), Philosophische Fakultät
Dr. Felix Cahn, Juristische Fakultät
Dr. Karl Dahl, Philosophische Fakultät
Dr. Alfred Dang, Philosophische Fakultät
Dr. Hans Ebeling, Philosophische Fakultät
Dr. Ludwig Ehrmann, Medizinische Fakultät
Dr. Walter Eisen, Philosophische Fakultät
Dr. Theodor Engel, Medizinische Fakultät
Dr. Erich Escher, Veterinärmedizinische Fakultät
Dr. Walter Fabian, Philosophische Fakultät
Dr. Heinrich Flachsbarth, Philosophische Fakultät
Dr. Rudolf Frank, Juristische Fakultät
Dr. Eugen Goldberg, Medizinische Fakultät
Dr. Walter Gottschalk, Philosophische Fakultät
Dr. Walter von Hahn, Philosophische Fakultät
Dr. Heinrich Hanau, Medizinische Fakultät
Dr. Leo Hirschland, Medizinische Fakultät
Dr. Hermann Holzer, Juristische Fakultät
Dr. Wilhelm Hopmann, Philosophische Fakultät
Dr. Ernst Israel, Philosophische Fakultät
Dr. Werner Joseph, Juristische Fakultät
Prof. Dr. Ernst Paul Kahle, Philosophische Fakultät
Dr. Max Katten, Philosophische Fakultät
Dr. Moritz Katz, Philosophische Fakultät
Dr. Theodor Keller, Medizinische Fakultät
Dr. Siegfried Klein, Medizinische Fakultät
Dr. Hans Marcuse, Juristische Fakultät
Dr. Ferdinand Meyer, Juristische Fakultät
Dr. Ernst Morgenroth, Philosophische Fakultät
Dr. Walter Oppenheimer, Juristische Fakultät
Dr. Joachim Prinz, Philosophische Fakultät
Dr. Friedrich Quack, Philosophische Fakultät
Dr. Felix Röttgen, Juristische Fakultät
Dr. Paul Rosenbaum, Juristische Fakultät
Dr. Walter Schirren, Philosophische Fakultät
Dr. Johannes Schneider, Medizinische Fakultät
Dr. Joseph Straeter, Veterinärmedizinische Fakultät
Dr. Hugo Strauss, Philosophische Fakultät
Dr. Frieda Vogel, Philosophische Fakultät
Dr. Franz Wasiak, Juristische Fakultät
Dr. Julius Weinberg, Juristische Fakultät
Dr. Gustav Wendel, Medizinische Fakultät
Dr. Walter Zabolitzky, Juristische Fakultät
Die Justus-Liebig Universität verpflichtet sich, an ihrem Platz dafür einzutreten, dass sich solche Akte der Ausgrenzung und Verfolgung nicht wiederholen."
Das Erweiterte Präsidium der JLU
Das Präsidium der JLU
Merkmale dieser Pressemitteilung:
fachunabhängig
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftspolitik
Deutsch
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