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15.02.2006 15:32

Bayreuther Versichertenmodell baut auf eine risikoorientierte Prämie

Jürgen Abel M. A. Pressestelle
Universität Bayreuth

    Bayreuth (UBT). Wissenschaftler der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie der Universität Bayreuth haben gestern in Berlin als Manifest ein "Bayreuther Versichertenmodell" vorgelegt, das den Untertitel "Der Weg in ein freiheitliches Gesundheitswesen" trägt. Das von Bayreuther und Magdeburger Wissenschaftlern entwickelte Modell setzt auf einen ordnungspolitischen Neuanfang, die Trennung von Versicherung und Umverteilung und sieht die Einführung einer marktwirtschaftlich orientierten und nach dem Risiko des Versicherten berechneten Versicherungsprämie vor.

    "Bayreuther Manifest" zur Reform des Gesundheitswesens vorgestellt
    Bayreuther Versichertenmodell baut auf eine risikoorientierte Prämie
    Von der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie erarbeitet

    Bayreuth (UBT). Wissenschaftler der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie der Universität Bayreuth haben gestern in Berlin als Manifest ein "Bayreuther Versichertenmodell" vorgelegt, das den Untertitel "Der Weg in ein freiheitliches Gesundheitswesen" trägt. Das von Bayreuther und Magdeburger Wissenschaftlern entwickelte Modell, das von dem Leiter der Forschungsstelle, dem Bayreuther Volkswirtschaftler Professor Peter Oberender vorgestellt wurde, setzt auf einen ordnungspolitischen Neuanfang, die Trennung von Versicherung und Umverteilung und sieht die Einführung einer marktwirtschaftlich orientierten und nach dem Risiko des Versicherten berechneten Versicherungsprämie vor.

    Die Pressemitteilung der Wissenschaftler zum Bayreuther Versichtenmodell hat folgenden Wortlaut:

    Pressemitteilung zum "Bayreuther Manifest"
    Das deutsche Gesundheitswesen ist krank. Es leidet an einer Vielzahl von Symptomen. Einerseits bestehen vielfältige Verschwendungen, andererseits wird es von gravierenden Mängeln in der Versorgung geplagt. Seinen Niederschlag findet dies in einer immer wiederkehrenden finanziellen Atemnot der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Vor allem ist eine nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsversorgung nicht gesichert. Die Deckungslücke zwischen den Leistungsbeziehern und den Finanzierungsträgern - infolge der Kombination des medizinisch-technischen Fortschrittes und der demographischen Alterung - wächst mit jeder Generation an.
    Die bisherigen Versuche der Gesundheitspolitik stellen nur eine Symptombehandlung dar, die letztlich in einer Interventionsspirale enden. Auch die Vorschläge einer Bürgerversicherung, einer Gesundheitsprämie oder einer Bürgerpauschale lösen das Problem nicht ursachengerecht.
    Das Bayreuther Versichertenmodell setzt auf einen ordnungspolitischen Neuanfang und trennt Versicherung und Umverteilung. Die Versicherungsprämien können marktwirtschaftlich, d. h. nach risikoorientierten Prämien, kalkuliert werden. Weder ein Kontrahierungszwang und ein Diskriminierungsverbot noch ein Risikostrukturausgleich sind daher erforderlich. Zur Mobilität der Versicherten ist eine tragfähige Lösung der Mitgabe von individualisierten Altersrückstellungen notwendig.
    Bei der Einführung des Bayreuther Versichertenmodells werden alle Personen, die jünger als 40 Jahre alt sind in das neue Versicherungssystem überführt. Zum solidarischen Schutz ökonomisch Schwacher wird ein Versicherungsgeld nach dem Vorbild des Wohngelds eingeführt, das steuerfinanziert ist. Bis zum Jahr 2050 ist die gesamte Wohnbevölkerung im neuen Krankenversicherungssystem versichert und die Umstellung abgeschlossen. Im Jahr 2005 entsteht ein Kompensationsbedarf von 29 Mrd. €; 2040 erreicht der Kompensationsbedarf mit 107 Mrd. € sein Maximum und sinkt dann wieder ab. Die staatlichen Kompensationszahlungen belaufen sich langfristig auf maximal 3 % des Bruttoinlandsprodukts.
    Nur durch eine konsequente Entstaatlichung des Gesundheitswesens bei einem ausreichenden Schutz der Härtefälle kann ein Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse gefunden werden, damit das Gesundheitswesen in Deutschland in Zukunft auch nachhaltig finanzierbar, sozialverträglich und damit zukunftsfähig bleibt.
    Bayreuther Versichertenmodell: Der Weg in ein freiheitliches Gesundheitswesen
    Peter Oberender, Volker Ulrich, Stefan Felder, Udo Schneider, Andreas Werblow und Jürgen Zerth, Bayreuth 2006

    Und hier die Zusammenfassung der Vorschläge:

    Executive Summary zum Bayreuther Manifest
    Das deutsche Gesundheitswesen steht vor einer entscheidenden Herausforderung. Wie kann eine nachhaltige, tragfähige Gesundheitsstruktur implementiert werden, die es erlaubt, einerseits eine hochwertig qualitative Versorgung der Patienten sicherzustellen, andererseits aber auch langfristig finanzierbar und auch intergenerativ gerecht zu bleiben? Die zentrale Herausforderung für die künftige Finanzierung der GKV ist die demographische Alterung in Kombination mit dem medizinisch-technischen Fortschritt. Das finanzielle Problem der GKV ist dabei weniger die Wirkung der Alterung auf die Ge-sundheitsausgaben, sondern die Wirkung der Alterung auf die intergenerative Verteilung der Einkommen. Zusammen bewirken demographische Alterung und medizinischer Fortschritt einen deutlich höheren Anstieg der Leistungsausgaben bei den älteren Versicherten (so genannte "Versteilerung der Ausgabenprofile"). Ohne den Effekt der "Versteilerung", der sich künftig wohl noch verstärken wird, könnte der aktuelle Beitragssatz der GKV nicht viel höher als in den 80er Jahren liegen. Das langfristige Problem der GKV-Finanzierung liegt darin, dass die Versteilerung bislang durch intergenerative Umverteilung finanziert wird. Als Indikator für diese Entwicklung dient die zunehmende Deckungslücke zwischen Beiträgen der Rentner und Leistungsausgaben für Rentner; diese hat bereits die 30%-Marke überschritten. Die Deckungslücke muss durch höhere Beiträge der Erwerbstätigen ausgeglichen werden. Ab 2010 wird zudem die demographische Alterung durch einen deutlichen Anstiegs des Altenquotienten bis 2040 noch spürbarer werden.
    Im gegenwärtigen Finanzierungsmodus stellen die Leistungsansprüche der heute lebenden Generationen daher einen hohen Anspruch vor allem an die noch nicht geborenen künftigen Generationen. Die Differenz aus den künftigen Beiträgen und Leistungsansprüchen aus dem System der sozialen Sicherung im Allgemeinen und der GKV im Besonderen ist ökonomisch nichts anderes als künftige Zahlungsverpflichtungen bzw. implizite Schulden, die letztlich durch künftige Steuern und Abgaben zu finanzieren bzw. zurückzuzahlen sind.
    Nach den Berechnungen im Bayreuther Versichertenmodell werden gemäß Status quo einer weiterhin mit Lohnbeiträgen finanzierten GKV die nach 1975 geborenen Jahrgänge einmalig mit einer impliziten Pro-Kopf-Steuer, d.h. einer GKV-Sondersteuer von über 20.000 € belastet. Die höchste implizite Steuer trägt der Jahrgang 1986 mit 34.000 €. Diese Steuer bezieht sich auf das restliche Lebenszeiteinkommen, das sich für die jungen GKV-Jahrgänge im Durchschnitt auf rund eine halbe Million € beläuft. Die implizite Staatsschuld ist jedoch nicht nur ein Problem im Verhältnis zu den künftigen Generationen. Auch zwischen den heute lebenden Generationen, die insgesamt bereits mit einer impliziten Staatsschuld in Höhe von 68 Mrd. € belastet werden, bestehen enorme Belastungsunterschiede im bestehenden Umlageverfahren der GKV. Belastet werden gegenwärtig ausschließlich die jungen Generationen (Jahrgänge 1965 bis 2004), während die älteren Jahrgänge vom vorherrschenden Finanzierungsverfahren stark profitieren. Die Nachhaltigkeitslücke kann nur verringert werden, wenn jede Generation über ihren Lebenszyklus hinweg stärker als bisher ihre eigenen Gesundheitskosten finanziert. Nachhaltigkeit einzuführen bedeutet die Rückführung bestehender Umverteilung. Nur eine Finanzierung der GKV, bei der jede Generation über ihren Lebenszyklus hinweg die eigenen Gesundheitskosten trägt, ist nachhaltig.
    An diesem Anliegen setzt das "Bayreuther Manifest" an, das als nachhaltige Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen und als Leitbild für ein modernes, eigenverantwortliches Gesundheitswesen zu verstehen ist.
    Das Bayreuther Konzept trennt Versicherung und Umverteilung. Die Versicherungsprämien sind risikoorientiert kalkuliert, wodurch ihnen der Charakter eines Preissignals zukommt.. Weder ein Kontrahierungszwang und ein Diskriminierungsverbot noch ein Risikostrukturausgleich sind daher erforderlich. Zur Mobilität der Versicherten ist eine tragfähige Lösung der Mitgabe von individualisierten Altersrückstellungen notwendig. Zum solidarischen Schutz ökonomisch Schwacher wird ein Versicherungsgeld nach dem Vorbild des bekannten Wohngeldprinzips eingeführt.
    Welche Vorteile lassen sich mit einem derartigen Versicherungsmodell realisieren? Um die Qualität und die Produktivität ständig zu erhöhen, bedarf es eines stetigen ökonomischen Drucks, der am wirkungsvollsten über Wettbewerb und Anreize organisiert werden kann. Dazu ist ein Systemwechsel in der Krankenversicherung zwingend erforderlich. Nur bei risikoorientierten Prämien kann die Prämie als Preissignal aufgefasst werden. Die Erfahrungen der PKV zeigen allerdings, dass die mangelnde Portabilität des angesparten Kapitals den Wettbewerb im gegenwärtigen System weitgehend auf die Gruppe der Neukunden reduziert. Ohne eine befriedigende Lösung dieses Problems kann Wettbewerb nicht funktionieren.
    Weiterhin müssen geeignete Rahmenbedingungen auf der Leistungs- und Vertragsseite geschaffen werden, die zunächst nicht unmittelbar mit einer Kapitalbildung zusammen hängen. Ein weiterer Vorteil des angestrebten Systemwechsels ist, dass der bestehende circulus vitiosus zwischen GKV-Einnahmen und Lohnkosten durchbrochen würde: Bislang erhöhen steigende Beiträge die Lohnnebenkosten und vernichten dadurch Arbeitsplätze. Dadurch entstehen der GKV und auch anderen Sozialversicherungen enorme Einnahmenverluste, wodurch wiederum der Druck auf die Beitragssätze erhöht wird. Zudem werden steigende Gesundheitsausgaben nicht automatisch negativ bewertet. Damit könnte auch der Wachstums- und Beschäftigungsdynamik des Gesundheitswesens eher entsprochen werden. Schätzungen des Sachverständigenrates gehen davon aus, dass mit 1 Mrd. € Mehrausgaben im Gesundheitswesen netto 6000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
    Solange regulierte Prämien vorliegen, wird jeder Produktwettbewerb als Ansatz zur Risikoselektion betrachtet. Gerade risikoorientierte Prämien ermöglichen es aber, dass der Wettbewerb der Krankenversicherungen nicht mehr nur ausschließlich über den Preis ausgetragen wird und somit Nichtpreiskomponenten eine stärkere Beachtung finden. Auch bei einem funktionstüchtigen Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt wird daher die Risikodurchmischung gefördert, da auch so genannte gute Risiken bei unterschiedlicher Risikoaversion einen umfangreicheren Versicherungsschutz nachfragen können und sich dann nicht mehr prima facie von schlechteren Risiken unterscheiden.
    Mit der Liberalisierung der Vertragsbeziehungen im Versicherungsbereich sind zwangsläufig Auswirkungen auf die organisatorische Gestaltung des Versorgungsvertrages verbunden. Bei Gültigkeit risikoorientierter Prämien und entsprechender Wahlfreiheit der Versicherten wird eine Sensibilisierung der Versicherten für die Opportunitätskosten ihrer Anspruchnahme ansteigen. Die Versicherungen werden mit dem Versicherungsangebot ein bestimmtes Vertragsangebot koppeln und dadurch versuchen, in der Konkurrenz zu anderen Versicherungsunternehmen qualitätsorientierte Versorgungsangebote zu entwickeln.
    Da jede grundsätzliche Reform eines Sicherungssystems Umstellungslasten bedingt und gewachsene Strukturen nicht über Nacht aufgebrochen werden können, bildet eine graduelle Systemtransformation den Leitfaden für die konkreten reformpolitischen Maßnahmen. Ein entscheidender Ansatzpunkt ist die Finanzierung der Umstellungsperiode bis die gesamte Bevölkerung auf das neue Leitmodell umgestellt ist.
    Die Musterberechnungen zum Bayreuther Versichertenmodell wurden zunächst unter der Annahme durchgeführt, dass alle Personen unter 40 Jahren mit dem Jahr 2005 in das neue Versichertenmodell überführt werden und dass bis zum Jahr 2050 die Umstellung auf das neue Modell im wesentlichen abgeschlossen ist. Zum Umstellungszeitpunkt verbleiben in der alten GKV noch 39 Mio. Versicherte, deren Zahl bis zum Jahr 2050 fast komplett abgebaut ist. Unsere Berechnungen sehen zudem so genannte Kompensationszahlungen oder Ausgleichszahlungen des Staates an jene Versicherten vor, die durch die Finanzierungsreform der GKV im Vergleich zum Status quo schlechter gestellt würden. Es handelt sich also um Zahlungen, die der Staat aufzubringen hätte, um die Verlierer einer Finanzierungsreform gegenüber dem Status quo zu kompensieren. Die staatlichen Zahlungen zur Kompensation der Verlierer werden langfristig (bis zum Jahr 2050) 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen. Dies spiegelt letztlich die Tatsache wider, dass die hier analysierte Finanzierungsreform der GKV - abgesehen von ihrer Effizienzwirkung - ein Nullsummenspiel zwischen den Generationen darstellt.
    Bei einer alternativen Umstellung des Systems, bei der mit der Reform nur die Neugeborenen aus der PKV und die Berufseinsteiger aus der alten GKV in die neue GKV einsteigen, ist der maximale Kompensationsbedarf kurzfristig gering. Er liegt bis 2010 unter 5 Mrd. € jährlich, steigt dann aber bis 2050 kontinuierlich bis auf 135 Mrd. € an. Wartet die Politik mit der Umstellung zu, kann sie die Kompensationszahlungen zeitlich aufschieben, gewinnt jedoch langfristig nichts!
    Aufgrund einer klaren ordnungspolitischen Positionierung des Bayreuther Modells, das bewusst auf den bisherigen Strukturen des Gesundheitswesens ansetzt und schrittweise einen Systemwandel vollzieht, wird ein Leitstern für die Gesundheitsreform entwickelt. Dabei geht es zunächst weniger um die häufig vordergründig formulierte Frage, ob es für die gegenwärtigen Generationen ein sozial gerechtes System gibt, sondern um die Ausgestaltung von Transparenz und Nachhaltigkeit eines Sicherungssystems in der Zukunft. Natürlich werden bei der Umstellung auf personenbezogene Prämien zunächst Personen mit niedrigeren Einkommen im Vergleich zur Ausgangssituation u. U. eine höhere Prämie zahlen. Damit wird aber dem Preischarakter der Versicherungsleistung Rechnung getragen. Entscheidend bleibt stets die Aufgabe, ein wettbewerbliches und europataugliches Gesundheitssystem aufzubauen, ohne dass jemand aufgrund fehlender Kaufkraft, von der Absicherung im Krankheitsfall ausgeschlossen wird. Die Erfüllung dieser Aufgabe steht im Mittelpunkt der Überlegungen zum Bayreuther Modell.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Wirtschaft
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

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