GhK 35/98, 17. April 1998
Handschriftenausstellung der Gesamthochschul-Bibliothek
Original der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 ausgestellt
Kassel. Äußerlich ist sie eher unscheinbar, aber ihr Inneres enthält in Schriftform gefaßte Brisanz, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts den deutschen König und seine Fürsten zu heftigsten Gegen-Reaktionen brachte: Die Frankfurter Reichsverfassung, die in der Originalschrift von 1849 auf 26 Blättern demokratische Grundrechte und Menschenrechte in 197 Paragraphen faßte. Die nach ihrem Entstehungsort in Frankfurt auch Paulskirchenverfassung genannte Schrift kann in der Handschriftenausstellung der Kasseler Universitätsbibliothek besichtigt werden. Das Kasseler Exemplar des Originaldrucks mit den Gesetzestexten und der 207 Unterschriften umfassenden Liste der Abgeordneten der Paulskirchenversammlung ist eine der beiden noch existierenden Originale jener für Deutschland erarbeiteten Verfassung, die in der Reihe der großen Verfassungen Englands, Amerikas und Frankreichs den Vergleich nicht scheuen muß. Die zweite der ursprünglich drei kostbaren Schriften liegt in Berliner Museum für Deutsche Geschichte, wohin sie nach dem Krieg gelangte. Obwohl schon als verschollen geglaubt, wurde das Berliner Dokument 1951 zufällig unter Trümmern in Potsdam gefunden, stark angegriffen von Wasser und Witterung. Das dritte Exemplar des Originaldrucks des Gesetzestextes wurde nach der Verabschiedung in Frankfurt dem preußischen König Friedrich Wilhelm dem Vierten nach Berlin zugestellt, der diese Form der Rechtsauffassung ablehnte und zurückwies und vermutlich deshalb nicht besonders pfleglich mit dem Dokument umging: Es ist verschollen. Ein deutlicher Ausdruck für die reaktionäre Gangart des Königs. Im weiteren Verlauf bewiesen die Könige und Landesfürsten der deutschen Staaten, daß ihnen die in Frankfurt erstellte Verfassung kaum das Papier wert war, auf das sie gedruckt wurde. Die Reaktion war in vollem Gange, bekämpfte gewaltsam das, was zuvor durch das liberale Bürgertum erstritten worden war - frei nach dem Motto "Räsonieren dürfen sie, aber gehorchen müssen sie". Nicht nur in regionalen Aufständen, sondern vor allem durch die zentral neu geschaffene Verfassung wollte man sich Gehör und Basis verschaffen. Im Bewußtsein einer legitimem Vertretung der Bürger brachte das Parlament zu Papier, was im Zeichen der Revolution gefordert wurde: Das Bedürfnis nach einem liberalen Staatswesen, die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates und die Abschaffung des Feudalismus, der Monarchie von "Gottes Gnaden".
So wurden in der Verfassung erstmals die Grundrechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit festgelegt. Sie sollten die Grundlage eines neuen Staatsgefüges bilden und manifestieren eindrucksvoll das frühe Verständnis für ein demokratisches Staatswesen. Die vielzitierten Vergleiche mit dem heutigen Grundgesetz unterstreichen die bürgerlich-demokratische Aussage des Dokuments.
Pfleglich hingegen ging man in Kassel mit dem Original der Paulskirchenverfassung um. Nicht von ungefähr, war es doch in sach- und fachkundiger Hand. Der Kasseler Bibliothekar Karl Bernhardi, Mitglied des Paulskirchenparlament, brachte im Juni 1849 die gebundene Verfassung als Geschenk für die kurfürstliche Landesbibliothek nach Kassel. Er ist es auch, der in einem handschriftlichen Vermerk auf den ersten Seiten des Kasseler Exemplars Auskunft über den Verbleib des dritten, heute als verloren geltenden Dokuments gibt. Wenngleich auch der Kurfürst nicht gerade als begeisterter Anhänger demokratischer Anliegen galt - sicher verwahrt in der Bibliothek überstand die Originalschrift die nachfolgenden Unruhen und den Zweiten Weltkrieg unbeschadet.
Heute kann man sie besichtigen und wer ein Faksimile der Schrift nach Hause tragen möchte, hat auch dazu die Möglichkeit: 1989, noch vor der Wende, veröffentlichte die Universität Gesamthochschule Kassel zusammen mit dem Museum für Deutsche Geschichte Berlin (DDR) als Besitzer des anderen Exemplars ein Faksimile der Verfassung. Eine Publikation, die unter schwierigen Bedingungen stattfand. War es zum einem ein pragmatisches Problem, das für die Anfertigung des Faksimiles benötigte Filmmaterial in die DDR zu schaffen, so war es zum anderen eine politische Gradwanderung beider Seiten, schließlich befaßte man sich hier mit der gemeinsamen Geschichte der getrennten deutschen Staaten. Das Filmmaterial, benötigt für das Abfotografieren der Berliner Dokumente, wurde unter schwierigen Umständen nach Ostberlin gebracht, um schließlich wieder in die Bundesrepublik "reimportiert" zu werden. Nötig waren diese grenzüberschreitenden Anstrengungen, da die Unterschriftenliste der Kasseler Ausgabe ebenso wie die Berliner Fassung jeweils unvollständig waren: Im Trubel um den erfolgreichen Abschluß, nach zäher Arbeit und schon im Begriff, mit der Erfolgsmeldung nach Hause in aller Herren Länder zurückzueilen, vergaßen einige Abgeordnete, in allen drei Exemplaren zu unterschreiben. Die Publikation des Faksimiles übernahm ein westdeutscher Verlag, ein Spagat, der viele Anstrengungen und guten Willen aller Beteiligten verlangte. Politisch gesehen stand dieses Unternehmen wohl im Zeichen der Vorwendezeit, in der eine gewisse Liberalisie-rung die Bürokratie besänftigte. Trotzdem war nach Auskunft eines Beteiligten die Stasi allgegenwärtig.
Die Ausgabe des Faksimiles ist zu beziehen beim Verlag Otto Harrassowitz, Wiesbaden und enthält neben dem Verfassungstext der Kasseler Ausgabe die Originalunterschriften aller Abgeordneten des Paulskirchenparlaments, außerdem Beiträge zur Dokumentenge-schichte aus Ost- und Westdeutschland (ISBN 3-447-02935-8).
Wer sich einen unmittelbaren Eindruck verschaffen möchte, hat jetzt die Möglichkeit, im Ausstellungsraum der Handschriftensammlung die Verfassung des Frankfurter Parlaments einzusehen. Ein Besuch, der sich lohnt, ist doch nicht allein der optisch eher bescheidene Druck der Frankfurter Reichsverfassung zu sehen, sondern auch Originalhandschriften wie das althochdeutsche Hildebrandlied und der Willehalmkodex, daneben reichlich verzierte und prächtig illustrierte Bibeln, etwa die Gutenbergbibel, und beispielsweise Teile der Alchemiehandschriften, deren größte Sammlung Europas in Kassel zu finden ist.
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