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11.05.2006 10:49

Taiwans neue Identität auf dem Weg zur Unabhängigkeit

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Seit Jahrhunderten war Taiwan durch Fremdherrschaft geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Bevölkerung der chinesischen Inselprovinz zu einer neuen Identität gefunden. Der Sinologe Stefan Fleischauer erforscht die Wurzeln und Motive der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, die sich von der Volksrepublik China abspalten will. Er hält eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und Taiwan langfristig für wahrscheinlich.

    Schon seit Jahrzehnten schwelt der Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Insel Taiwan: Der faktisch souveräne Staat, der mit den territorialen Ansprüchen der Volksrepublik konfrontiert wird, fordert heute stärker denn je mit neuem nationalem Selbstbewusstsein seine Unabhängigkeit als "Republik Taiwan". Peking betrachtet die demokratische Inselrepublik hingegen nur als abtrünnige Provinz und droht im Falle einer Unabhängigkeitserklärung mit Krieg: Rund 700 Kurzstreckenraketen sind auf die Insel Taiwan gerichtet. Taiwan wird - mit Rücksicht auf die Volksrepublik China - nur von wenigen Regierungen weltweit als eigener Staat anerkannt. Gegen die chinesische Besatzung hatten sich die Taiwanesen bereits am 28. Februar 1947 erhoben, der Aufstand wurde von den Chinesen blutig niedergeschlagen. Welche Bedeutung die Taiwanesen diesem Ereignis in der Debatte um eine nationale Unabhängigkeit heute noch beimessen, untersucht Stefan Fleischauer vom Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen. Der Sinologe möchte auch erkunden, welche Motive die Verfechter der Unabhängigkeit Taiwans bewegen und wie stark das Streben nach einer eigenen Nation heute ist.

    Tatsächlich ist die Geschichte und Kultur Taiwans, dessen Fläche knapp der Größe der Schweiz entspricht, durch die Fremdherrschaft verschiedener Nationen geprägt, so dass es für die taiwanesische Bevölkerung stets schwierig war, eine eigene Identität zu finden. Im 16. und 17. Jahrhundert zunächst als Kolonie von Spanien und den Niederlanden besetzt, wurde die Provinz Taiwan Mitte des 17. Jahrhunderts durch den chinesischen Kriegsherrn Zheng Chengong, auch Koxinga genannt, eingenommen und 1683 von Peking annektiert. Jedoch musste China die Insel nach dem verlorenen chinesisch-japanischen Krieg von 1895 an Japan abtreten. "In dieser Periode führten die Taiwanesen entweder Widerstand gegen die Japaner oder sie fühlten sich als Japaner", sagt Fleischauer. "Durch die japanische Politik der kulturellen Assimilation mussten viele Taiwanesen japanische Namen annehmen und wurden gezwungen, die Shinto-Religion auszuüben."

    Der Jubel der Taiwanesen war zunächst groß, als die Provinz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Niederlage der Japaner erneut dem chinesischen Hoheitsgebiet angegliedert wurde. Am 25. Oktober 1945 übernahm die nationalchinesische Kuomintang-Regierung unter Chiang Kai-shek durch ihren Repräsentanten und Provinzgouverneur von Taiwan, General Chen Yi, die Regierungsgewalt über die Insel. Fleischauer hat für seine Forschungsarbeit Zeitzeugen in Taiwan zur damaligen Stimmung befragt: "Taiwan erlebte eine Welle nationaler Begeisterung, denn schließlich wechselte man auch von der Seite der japanischen Verlierer auf die Seite der chinesischen Gewinner." Die patriotische Hochstimmung wurde jedoch bald enttäuscht: Die Truppen der Kuomintang betrachteten Taiwan als "wirtschaftliche Beute" und behandelten die Bevölkerung verächtlich als "japanische Kollaborateure". Zudem wurden unter der korrupten Regierung von Chen Yi alle bedeutenden Posten mit Chinesen - den so genannten Festländern - besetzt, so dass bereits 1946 die ersten Konflikte zwischen der Provinz und der Volksrepublik entstanden.

    Der Unmut der Taiwanesen gegen die chinesische Besatzungsmacht entlud sich schließlich in gewaltsamen Ausschreitungen. "Der Auslöser war ein Vorfall am Abend des 27. Februar 1947 in Taipei: Eine verwitwete Zigarettenhändlerin wehrte sich gegen Sicherheitsbeamte, die ihr illegalen Handel vorwarfen und sie niederschlugen", berichtet Fleischauer. Umstehende Passanten hätten dann die Beamten angegriffen, die das Feuer eröffnet und dabei einen unbeteiligten Passanten getötet hätten. Schnell machte die Nachricht als "Vorfall vom 28.2." (ererba shijian) in Taipei die Runde, und noch am selben Tag kam es zu Demonstrationen in der Provinzhauptstadt. Es entwickelte sich eine Massenbewegung gegen die Festländer, die vor allem die Städte der Inselprovinz für mehrere Wochen erschütterte und schließlich durch chinesische Truppen brutal niedergeschlagen wurde. "Es wird heftig darüber gestritten, wie viele Taiwanesen dabei getötet wurden. Nach meinem heutigen Kenntnisstand halte ich eine Zahl von 20 000 Toten für realistisch", erklärt der Sinologe.

    Dieser Aufstand habe nicht zum Sturz des Kuomintang-Regimes geführt, und erst 1987, nach Aufhebung des Kriegsrechts, habe sich in Taiwan eine Parteienlandschaft entwickeln können. "Dennoch ist der so genannte 228-Aufstand für das taiwanesische Volk bis heute von entscheidender Bedeutung", sagt Stefan Fleischauer. Zu diesem Ergebnis kommt er, nachdem er in Taiwan den Ursprung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung erforscht hat. "Zum 228-Aufstand selbst gibt es heute viel Forschungsmaterial, obwohl das Thema erst in den neunziger Jahren wieder in der Öffentlichkeit Taiwans diskutiert wurde." Als Gründer der Bewegung gelte Liao Wenyi, der sich während des 228-Aufstands zwar nicht in Taiwan aufhielt, danach aber als Dissident von China verfolgt wurde. Er habe im Sommer 1947 in Hongkong die "Liga zur erneuten Befreiung Taiwans" gegründet und versucht, einen Zusammenschluss mit Chinas kommunistischen Regimegegnern zu erreichen. Diese Liga habe wahrscheinlich nur wenige Wochen lang bestanden. 1950 gründete Liao Wenyi in Tokio die "Demokratische Unabhängigkeitspartei Taiwan" und 1955 das "Gouvernment-in-Exile of the Republic of Taiwan", eine Exilregierung. "Damals bestand die Unabhängigkeitsbewegung jedoch nur aus einigen hundert Menschen", sagt er. 1987 sei eine organisierte Gruppe in Taiwan mit der Forderung nach Unabhängigkeit der Insel an die Öffentlichkeit gegangen. "Erst 1992 wurde der berüchtigte Paragraf 100, das offizielle Verbot, für staatliche Unabhängigkeit einzutreten, aufgehoben", sagt der Sinologe. In der Unabhängigkeitsbewegung sei der 228-Aufstand neu interpretiert worden: "Zunächst war er eine große Tragödie für Taiwan. Heute jedoch wertet die Bewegung ihn als Erweckungsmoment, in dem die eigene Identität der Taiwanesen wurzelt", resümiert Fleischauer seine Forschungsergebnisse.

    Dieses abstrakte nationale Selbstbewusstsein würde auch in der aktuellen politischen Debatte in Taiwan deutlich. Unterschwellig fordere die Bewegung seit Jahren, dass die Unabhängigkeit Taiwans erzwungen werden müsse, solange das chinesische Festland militärisch nicht darauf vorbereitet ist. Der Tübinger Sinologe ist zu der Einschätzung gekommen, dass das taiwanesische Militär momentan in der Lage wäre, eine Invasion des Festlands abzuwehren. Ihm erscheint ein Konflikt mit dem Festland langfristig als sehr wahrscheinlich: "Wenn sich Taiwan nicht in die Volksrepublik eingliedert, bleibt China nur die militärische Option. Von enormer Bedeutung wäre aber auch, welche Haltung die USA im Falle einer Konfrontation einnehmen würden." Taiwan sei für China nicht nur von geostrategischer Bedeutung. Noch wichtiger sei, so Fleischauer, dass in China der Sozialismus gescheitert ist und durch einen übersteigerten Nationalismus kompensiert werde: "In China will man keine territorialen Verluste hinnehmen, Taiwan steht dabei im Zentrum der Forderungen." Er selbst habe chinesische Studenten getroffen, die zwar dem Regime der Volksrepublik kritisch gegenüber stehen, aber klar der Auffassung seien, dass Taiwan zu China gehöre und kein unabhängiger Staat sein dürfe. In Taiwan hat der Sinologe einen gegensätzlichen Trend festgestellt. Das taiwanesische Bekenntnis zur eigenen Unabhängigkeit liege nach Umfrageergebnissen in der Bevölkerung bei 20 Prozent. Der allergrößte Teil der Taiwanesen, darunter auch die Anhänger der Regierungspartei DPP (Democratic Progessive Party), wolle den Status quo beibehalten. Stefan Fleischauer wertet dies als ein "implizites Bekenntnis zur Unabhängigkeit". (7782 Zeichen)

    Nähere Informationen:

    Stefan Fleischauer
    Seminar für Sinologie und Koreanistik
    Wilhelmstraße 133
    72074 Tübingen
    Tel. 0731/55 30 91
    E-Mail stefanmdl@hotmail.com

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html
    Unter dieser Adresse sind auch Bilder zu sehen, die die Pressestelle gern auf Anforderung - teilweise in besserer Auflösung - zusenden kann.

    Hinweis:

    Das Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen veranstaltet am 19. und 20. Mai ein Filmfestival mit Dokumentarfilmen aus Taiwan. Näheres hierzu unter:
    http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pm/pm2006/pm-06-64.html

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    EBERHARD KARLS UNIVERSITÄT TÜBINGEN
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit o Michael Seifert
    Wilhelmstr. 5 o 72074 Tübingen
    Tel. 0 70 71 o 29 o 7 67 89 o Fax 0 70 71 o 29 o 55 66
    Michael.Seifert@uni-tuebingen.de
    Verantwortlich für diese Ausgabe: Janna Eberhardt
    Tel. 0 70 71 o 29 o 7 78 53 - Janna.Eberhardt@uni-tuebingen.de
    Wir bitten um Zusendung von Belegexemplaren!


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Politik, Recht, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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