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24.05.2006 16:37

Demokratie braucht Zeit - Diskussion in der Universität Heidelberg live im Deutschlandfunk

Dr. Michael Schwarz Kommunikation und Marketing
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

    Am vergangenen Montag fand in der Universität Heidelberg die live übertragene Diskussion zum Thema 'Die Bundesrepublik auf dem Weg nach Deutschland - Neue Bücher im Gespräch' statt - Interessante Aspekte zur Entwicklung unserer Demokratie, die belastbarer ist, als wir gemeinhin annehmen

    Podiumsdiskussionen sind für die Heidelberger Universität nun wirklich nicht außergewöhnlich. Wenn jedoch der Deutschlandfunk live aus dem Gebäude der Neuen Universität überträgt, dann sorgt das schon für Aufsehen. Immerhin ist solch eine Live-Übertragung mit einem gehörigen technischen Aufwand verbunden. Um Punkt 19.15 Uhr am vergangenen Montag war es dann soweit: Der bekannte Moderator Hermann Theißen konnte die rund 60 Gäste im Saal wie auch die Hörer am Radio zur Diskussionsrunde 'Die Bundesrepublik auf dem Weg nach Deutschland - Neue Bücher im Gespräch' begrüßen.

    Unter den drei Gästen am Mikrofon waren gleich zwei bekannte Gesichter der Ruperto Carola: Professor Uta Gerhardt vom Heidelberger Institut für Soziologie, deren Buch zur amerikanischen Besatzung nach dem 2. Weltkrieg den Titel 'Soziologie der Stunde Null' trägt, sowie der renommierte Geschichtswissenschaftler Professor Edgar Wolfrum vom Heidelberger Historischen Seminar. Sein kürzlich veröffentlichtes Buch 'Die geglückte Demokratie' hatte in der jüngsten Zeit für große Aufmerksamkeit gesorgt und bildete gleichsam den zeitlich alles überspannenden Rahmen der Sendung. Denn während sich Uta Gerhardt mit den ersten Jahren - um nicht zu sagen Monaten - nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte und sich somit dem frühesten Stadium der Nachkriegsdemokratie widmete, untersuchte der dritte Gast der Runde - der Augsburger Neuzeithistoriker Andreas Wirsching - den ersten Abschnitt der Ära Kohl zwischen 1982 und der Wiedervereinigung. Diese beiden eher schlaglichtartig ausgeleuchteten historischen Bereiche wurden von Edgar Wolfrums Abhandlung zur gesamten Zeit zwischen dem Kriegsende und der aktuellen Gegenwart gleichsam umfasst.

    So wandte sich der Moderator denn auch zunächst mit der ersten Leitfrage nach dem Erfolg der Demokratie im Nachkriegsdeutschland an Professor Wolfrum, der die Entwicklung der Bundesrepublik seit 1945 unter dem Begriff der 'geglückten Demokratie' subsumierte, wobei er hierin von Uta Gerhardt und Andreas Wirsching unterstützt wurde. "Immerhin war es direkt nach 1945 noch völlig offen, welchen Weg das Land einschlagen würde", stellte Professor Wolfrum hierzu fest. "Neue Grenzen, ein neues Staatssystem, dazu die zwölf Millionen Vertriebenen; es war keineswegs ausgemacht, dass die Demokratie solch sicheren und festen Halt in Deutschland finden würde", betonte er. Uta Gerhardt wies in der Diskussion darauf hin, dass sich die Demokratie im Nachkriegsdeutschland keineswegs wie ein "Phönix als Zivilgesellschaft aus der Asche des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus erhob", wie sie es auch in ihrem Buch 'Soziologie der Stunde Null' thematisiert.

    An diesen Punkt hakte denn nach der 40minütigen Live-Sendung auch eine Frage aus dem Auditorium ein, die der Siegermacht USA Unkenntnis der deutschen Verhältnisse und Mentalitäten direkt nach dem Krieg vorwarf. Uta Gerhardt konnte hier jedoch stichhaltig nachweisen, wie gut die US-Streitkräfte sich vorbereitet hatten - in ihren Reihen befanden sich zahlreiche Exilanten, die ihre alte und neue Heimat bestens einzuschätzen wussten. Deutlich machte Frau Gerhardt hierbei auch, wie wichtig es war, die Demokratisierung Deutschlands durch die amerikanische Besatzungsherrschaft anhand der originalen Dokumente nachzeichnen, wie sie es für ihr Buch unternommen hat. Zum Erfolg des republikanischen Projekts, so die Soziologin, habe der Demokratietransfer durch die amerikanische Besatzungsmacht ganz wesentlich beigetragen. Aus dem als Provisorium gedachten Weststaat sei schon vor der deutschen Vereinigung ein "ganz normaler" Staat geworden.

    Eine These, die Andreas Wirsching in seinem voluminösen Buch 'Abschied vom Provisorium - Geschichte der Bundesrepublik Deutschland' unterfüttert. Der Augsburger Historiker machte deutlich, dass trotz der für die 80er Jahre so typischen Probleme die Demokratie nur zusätzlich gefestigt wurde - und das ungeachtet der scheinbar gegensätzlichen Stimmungen im Land. Denn als 1982 Helmut Kohl unter dem Schlagwort der 'geistig-moralischen Wende' sein Kanzleramt antrat, fürchtete die Linke eine konservative Restauration, während seine Anhänger sich eine Zeit der Stabilität nach den unruhigen 70er Jahren erhofften. Letztlich jedoch waren die 80er Jahre - auch wenn sie sich auf diesem Wege nur sehr schwer definieren lassen - geprägt von der Auseinandersetzung um Nachrüstung und Umweltpolitik, von der Massenarbeitslosigkeit oder der Rentendiskussion, so dass Andreas Wirsching in seinem Buch zu Recht von einem Epochenwechsel spricht, der sich in der Individualisierungsspirale, in der Expansion des Sozialstaats und in der Unterspülung seiner Fundamente infolge des demographischen, ökonomischen und soziokulturellen Wandels ausdrückt. Am Ende jedoch markierte die Wiedervereinigung die Mitte der Kohl'schen Kanzlerschaft und überstrahlte rein optisch alle Probleme.

    Im Anschluss an die live übertragene Diskussion endete die Veranstaltung jedoch noch lange nicht. Zu sehr lagen dem Auditorium noch einige Fragen auf dem Herzen, wie beispielsweise die Tatsache, dass die DDR in allen drei vorgestellten Büchern lediglich am Rande vorkommt und nur im Zusammenhang mit den Unruhen von 1953, 1968 oder 1989 Erwähnung findet. "Das liegt natürlich in der Sache an sich begründet", findet Edgar Wolfrum. "Im Osten gab es nur wenige Ansatzpunkte für eine Demokratiegeschichte, deshalb bleiben die Untersuchungen hier auf die Rezeption der Ost-Aufstände beschränkt."

    In der Debatte im Anschluss an die Sendung kam natürlich auch die gegenwärtig als so schlecht bewertete Gesamtsituation Deutschlands zur Sprache sowie die noch immer spürbare Kluft zwischen Ost und West. "Hier darf man jedoch nicht vergessen, dass die seit der Wiedervereinigung vergangenen 16 Jahre eine viel zu kurze Zeit sind, um die vier Jahrzehnte Demokratieerfahrung des Westens aufzuholen", so Edgar Wolfrum, der aber dennoch - wie auch Uta Gerhardt und Andreas Wirsching - den Standpunkt vertritt, dass man die demokratische Entwicklung positiv bewerten sollte. "Demokratie braucht einfach Zeit, um sich entwickeln zu können", fasst er die Ergebnisse der Diskussion an diesem Abend zusammen. Und wenn man vor dem Erfahrungshorizont der vergangenen 60 Jahre ein Resümee ziehen möchte, so muss man sagen, dass "wir Deutschen in dieser Zeit sehr viel krisenfester geworden sind, als wir denken. Wir können gegenwärtig auf die längste demokratische Phase zurückblicken, die unser Land je erlebt hat - und deshalb kann man davon ausgehen, dass diese Demokratie auch Krisen bewältigen wird", betont Wolfrum. Das Fazit der Diskussionsrunde 'Die Bundesrepublik auf dem Weg nach Deutschland - Neue Bücher im Gespräch' ist deshalb ebenso klar wie optimistisch: Unsere Demokratie ist heute belastbarer, als man meint - und deshalb durchaus in der Lage, die Probleme der Gegenwart wie der Zukunft zu meistern.

    Die Diskussionsrunde 'Die Bundesrepublik auf dem Weg nach Deutschland - Neue Bücher im Gespräch' am 22. Mai befasste sich mit folgenden Büchern:

    * Uta Gerhardt:
    Soziologie der Stunde Null - Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944 - 1945/46. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2005, 455 Seiten, 16 Euro

    * Andreas Wirsching:
    Abschied vom Provisorium - Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982 - 1990. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006, 848 Seiten, 49,90 Euro

    * Edgar Wolfrum:
    Die geglückte Demokratie - Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zu Gegenwart. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 694 Seiten, 29,50 Euro

    Die nächste Sendung des Deutschlandfunks aus der Reihe 'Politische Literatur' wird am 29. Mai ab 19:15 Uhr auf der Frequenz 106,5 MHz übertragen.
    Heiko P. Wacker

    Rückfragen bitte an
    Dr. Michael Schwarz
    Pressesprecher der Universität Heidelberg
    Tel. 06221 542310, Fax 542317
    michael.schwarz@rektorat.uni-heidelberg.de
    http://www.uni-heidelberg.de/presse

    Irene Thewalt
    Tel. 06221 542311, Fax 542317
    presse@rektorat.uni-heidelberg.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Recht
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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