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29.11.1999 12:12

Vom "bitteren" Brei - Tagung: "Verhaltensauffälligkeiten - Ausdruck von Selbstbestimmmung?"

Ingrid Godenrath Stabsstelle Zentrale Kommunikation
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Über 700 Fachleute aus Wissenschaft und Praxis haben sich für die Fachtagung am 2. und 3. Dezember 1999 (Offizieller Beginn: 2. Dezember 10:00 Uhr) angesagt. Da der große Zulauf die Aufnahmekapazität des Freylinghausen-Saals in den Franckeschen Stiftungen zu Halle übersteigt, wird schon die nächste Veranstaltung geplant. Das Thema, das auf so unerwartet großes Interesse stößt, heißt Selbstbestimmung. Für viele Normalität, aber nicht für Menschen mit geistiger Behinderung.

Jahrzehntelang erschöpfte sich Behindertenarbeit in medizinischer Pathologisierung, psychiatrischer Institutionalisierung und psychischer Korrektur. Im Idealfall genossen behinderte Menschen Förderung durch spezielle Institutionen wie zum Beispiel Sonderschulen. Das Ziel war stets, die individuellen Defizite durch disziplinierende Maßnahmen abzubauen. Geistig behinderte Menschen sollten an die gesellschaftliche Norm angepaßt, das heißt normalisiert, werden. Ihnen wurde die Fähigkeit abgesprochen, eigene Bedürfnisse zu entwickeln und zu äußern. Das Ergebnis waren nicht individuelle Persönlichkeiten, sondern sich selbst und den anderen völlig entfremdete Menschen.

Inzwischen ist der Selbstbestimmungsdiskurs auch in die deutsche Heilpädagogik vorgedrungen. Wendepunkt in der Behindertenarbeit war der Zentrale Kongreß der Lebenshilfe e.V. im Jahr 1994 in Duisburg mit dem paradigmatischen Thema "Ich weiß doch selbst, was ich will."
Doch wie kann jemand wissen, was er will, wenn er nicht weiß, was er wollen kann? Alternativen müssen zunächst einmal aufgezeigt werden. Das setzt aber voraus, den Betreffenden zu kennen und zu verstehen.
Die Ausdrucksmöglichkeiten bei geistig behinderten und besonders bei schwer mehrfach behinderten Menschen sind uns völlig fremd. Oft werden diese Verhaltensweisen mißverstanden und als "Verhaltensauffälligkeiten" definiert.

An diesem Punkt setzt die Fachtagung an und stellt die Frage, ob Verhaltensauffälligkeiten nicht Ausdruck von Selbstbestimmung sind. Mit der Sensibilisierung für die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen geistig behinderter Menschen kommen auch ihre Eigenheiten in den Blick. Diese oft subtilen Verhaltensweisen sind Ergebnisse jahrelanger Hospitalisierung. Es sind Überlebensstrategien. Diese Eigenarten können aber auch Mitteilungsformen sein, die sichtbar werden, wenn sogenanntes auffälliges Verhalten nicht mehr medikamentös unterdrückt wird.

Die Betreuenden haben die Aufgabe, sich täglich mit dem Verhalten der geistig behinderten Menschen auseinanderzusetzen, es verstehen zu lernen und gegebenenfalls zuzulassen. "Hier beginnt die Verunsicherung, Hilflosigkeit und Überforderung der Mitarbeiter. Sie stecken in der schwierigen Lage, scheinbar zunehmende Verhaltensauffälligkeiten und die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben für geistig behinderte Menschen in Einklang zu bringen." Georg Theunissen, Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik am Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, berichtet weiter, "die Mitarbeiter müssen außerdem den Spagat zwischen steigendem Anspruch und zunehmender Ökonomisierung aushalten. Oft sind die Einrichtungen stark hierarchisch strukturiert. Gleichzeitig sollen sie aber gleichberechtigte, partnerschaftliche Beziehungen vorleben und mit den behinderten Menschen erleben."

Für Wissenschaftler, leitendes Rehabilitationspersonal und Experten der Praxis soll die Tagung der Raum sein, um Erfahrungen auszutauschen, die Probleme zu reflektieren, neue Handlungsmöglich-keiten zu diskutieren und Konzepte zu entwickeln. Angesehene Fachleute auf dem Gebiet der Behindertenarbeit kommen zu Wort. Dr. Monika Seifert, Universität Köln, referiert über das Problem der Integration verhaltensauffälliger Menschen in der Gemeinde. Die Zumutbarkeit von Verhaltensauffälligkeiten für die psychische Gesundheit der Betreuenden thematisiert Diplom-Pädagoge Carlos Escalera. Professor Theunissen fordert unter dem Stichwort "Empowerment" ein zeitgemäßes heilpädagogisches Konzept, das alte und neue einseitige Betrachtungen überwindet. Aus der therapeutischen Perspektive nähert sich Diplom-Soziologe und Psychiater Klaus Hennicke dem Thema. Er stellt die Frage nach der Funktion der auffälligen Verhaltensweisen für den Betroffenen.

Es werden aber auch grundsätzliche Themen diskutiert. Professor Dr. Wolfgang Jantzen, Universität Bremen, problematisiert den Begriff "Verhaltensauffälligkeiten". Auffälliges Verhalten ist nicht angeboren, sondern wird dem Betroffenen zugeschrieben. Es ist die Abweichung von der gesellschaftlich konstruierten Norm. Jemand der nicht sprechen kann, bedient sich anderer Ausdrucksmittel. Lautes gekünsteltes Husten oder das Klopfen mit der Hand gegen den Kopf kann zum Beispiel "nein", "nicht weiter" bedeuten. So ein Verhalten fällt auf, aber gibt es einen Grund diese Verhaltensweisen zu verurteilen oder zu unterdrücken?

Aber nicht nur der Begriff "Verhaltensauffälligkeit", sondern auch der Begriff der "Selbstbestimmung" ist umstritten. Otto Speck, emeritierter Professor an der Universität München, fragt nach den Fehldeutungen. Selbstbestimmung wird dem Menschen als wesenshaft unterstellt. Damit wird das Problem vereinfacht, denn zur Selbstbestimmung muß man erst einmal befähigt werden. Zudem wird oft die soziale Komponente völlig außer Acht gelassen. Selbstbestimmtes Leben ist nur in einer Persönlichkeit stärkenden Lebenswelt möglich. Das bedeutet, daß auch die Gesellschaft und das nähere soziale Umfeld in diesem Sinne verändert werden muß. Schließlich wird der Begriff der Selbstbestimmung mit Idealvorstellungen überladen. Mit einem überzogenen Wunschbild vom unabhängigen, freien Leben im Kopf wird die Frage heraufbeschworen, wie das denn bei geistig behinderten Menschen funktionieren soll.

"Wenn man unter den Bedingungen der Hospitalisierung gelebt hat, wie es sehr viele geistig behinderte Menschen tun mußten, dann setzt die Selbstbestimmung bei den Grundbedürfnissen an. Das fängt damit an, daß sie selbst entscheiden können, wann sie auf die Toilette gehen, was sie anziehen wollen und ob sie lieber Käse oder Wurst auf's Brot möchten," so Milly Aßmann vom Wohnhaus Fohlenweg in Halle und weiter, "Selbstbestimmung bedeutet ja auch nicht ohne Pflichten und Grenzen leben. Es muß aber zum Teil täglich neu ausgehandelt werden, wo die Grenzen liegen. Wir erleben, wie aktiv diese Menschen ihren neuen Freiraum entdecken, neue Bedürfnisse entwickeln und Grenzgänge wagen. Heute sind sie viel harmonischer und zufrieden mit sich."

Selbstbestimmung für geistig behinderte Menschen kann also schon das bedeuten, was für jeden von uns selbstverständlich ist. Während der große Teil der Bevölkerung seinen Weg in die Selbstbestimmung beispielsweise mit der Loslösung vom Elternhaus und der Suche nach dem eigenen beruflichen Werdegang verbindet, markiert die Entwicklung vom Brei über Festnahrung zum Wahlessen den Emanzipationsprozeß geistig behinderter Menschen.

Bianca Bast

Nähere Auskünfte:
Prof. Dr. Georg Theunissen
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Rehabilitationspädagogik
06099 Halle/ Saale
Tel.: (0345) 55-2 37 55
Fax: (0345) 55-2 70 49
theunissen@paedagogik.uni-halle.de


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Ergänzung vom 29.11.1999

Vom "bitteren" Brei - Tagung: "Verhaltensauffälligkeiten -
Ausdruck von Selbstbestimmung?"


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Pädagogik / Bildung, Psychologie
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch


 

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