idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
20.06.2006 09:46

Neue Ergebnisse zu Schmerzverarbeitung bei Borderline- Patientinnen: Neuronales Netzwerk im Gehirn dient der Schmerzunterdrückung

Dr. med. Marina Martini Referat Kommunikation und Medien
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

    Forscherteam aus Mainz, Mannheim und Bern veröffentlicht neue Schmerz-Studie in der renommierten Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry.
    Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung empfinden Schmerzen weniger stark als gesunde Menschen. Wie neue Forschungsergebnisse zeigen, ist der Grund dafür, dass bei Patientinnen mit Borderline-Störung die Entstehung von Schmerzempfindungen vom Gehirn aktiv unterdrückt wird. Dies stellte ein Forscherteam um den Psychiater Christian Schmahl vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, den Neurophysiologen Wolfgang Greffrath von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Erich Seifritz aus der Universitätsklinik für Psychiatrie Bern fest. Ihre Befunde wurden jetzt in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry veröffentlicht. Das Forscherteam hofft, dass ihre Ergebnisse auf lange Sicht auch chronischen Schmerzpatienten helfen könnten. Für ihre Untersuchungen zur Schmerzentstehung und Schmerzweiterleitung wurde die Gruppe bereits mit dem Deutschen Förderpreis für Schmerzforschung 2005 ausgezeichnet.

    Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich typischerweise selbst Verletzungen zu, so z.B. schneiden oder brennen sie sich oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, und berichten dabei von reduzierter Schmerzwahrnehmung bis hin zu völliger Schmerzlosigkeit. Das Forscherteam um Schmahl und Greffrath hatte in einer früheren Arbeit (PAIN 2004; 110: 470-479) gezeigt, dass jedoch die Schmerzentstehung und die Schmerzweiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und auch, dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn der BPS-Patientinnen zunächst noch normal auf schmerzhafte Reize reagieren. Die Wissenschaftler hatten daher gemutmaßt, dass somit im Gehirn dieser Patientinnen die Entstehung von Schmerzempfindungen aktiv unterdrückt werden müsse.

    Der Aufklärung der zentralnervösen Hintergründe dieses ungewöhnlichen Phänomens sind die Forscher nun einen großen Schritt näher gekommen. Sie untersuchten aktuell in Kooperation mit Erich Seifritz (Universitätsklinik für Psychiatrie, Bern) und weiteren Arbeitsgruppen aus Deutschland, Italien und der Schweiz, wie sich die zentralnervöse Verarbeitung von Schmerzreizen im Gehirn von Patientinnen mit BPS von der bei gesunden Versuchspersonen unterscheidet. Hierfür wurden sowohl objektiv identische als auch subjektiv gleich schmerzhaft empfundene Hitzereize auf den Handrücken der Versuchspersonen gegeben. Die Schmerzhaftigkeit wurde von den Teilnehmerinnen subjektiv bewertet während - mittels funktioneller Bildgebung in der Kernspintomographie - Hirnareale identifiziert wurden, die der Erkennung, Verarbeitung und Bewertung dieser Schmerzreize dienen.

    Hierbei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen. Objektiv identische Hitzereize von 43°C wurden von den Patientinnen subjektiv als weit weniger schmerzhaft empfunden als von den Gesunden. Dementsprechend wurde auch das Gehirn dieser Patientinnen durch solche Reize objektiv weit weniger stark aktiviert als das der Kontrollpersonen. Zur Auslösung einer identischen Schmerzempfindung mussten die Reiztemperaturen bei den Patientinnen um fast 3°C gegenüber Gesunden erhöht werden. Auch hierbei wurden auffällige Unterschiede gefunden: Der dorsolaterale präfrontale Kortex, ein Hirnareal das der kognitiven Schmerzbewertung dient, zeigte unmittelbar nach der Hitzereizung bei den Borderline-Patientinnen eine erhöhte Aktivität gegenüber Gesunden. Nachfolgend wurde in der Hirnrinde des vorderen Cingulums und in der Amygdala der Patientinnen die Aktivität deutlich reduziert - diese Hirngebiete sind dafür bekannt, dass sie der affektiven Bewertung von Schmerzreizen dienen. Dies legt den Schluss nahe, dass bei den Patientinnen mit Borderline-Störung eine erhöhte kognitive Kontrolle zu einer niedrigeren affektiven Schmerzbewertung führt und damit zur Schmerzunempfindlichkeit. Man kann vermuten, dass starke Schmerzreize zu einer Beruhigung von Hirnsystemen führen, die für die Verarbeitung von starken Emotionen verantwortlich sind. Selbstverletzungen bei Borderline-Patientinnen können also in gewisser Weise als ein Selbstheilungsversuch angesehen werden. "Somit verfügt unser Gehirn offensichtlich über sehr effektive neuronale Netzwerke zur Unterdrückung von Schmerzen. Wenn wir diesen Mechanismus genauer verstehen, können wir möglicherweise in Zukunft von den Borderline-Patientinnen lernen, wie wir chronischen Schmerzpatienten besser helfen können", so die Autoren.

    Die Befunde sind in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry veröffentlicht ("Neural correlates of antinociception in borderline personality disorder", Archives of General Psychiatry. 2006; 63: 659-667; http://archpsyc.ama-assn.org/cgi/content/short/63/6/659 ).

    Kontakt
    Dr. med. Marina Martini, M. Sc.
    Leitung Referat Öffentlichkeitsarbeit
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    J 5, 68159 Mannheim
    Fon: 0621/1703-1301
    Fax: 0621/1703-1305
    E-Mail: marina.martini@zi-mannheim.de
    Internet: http://www.zi-mannheim.de


    Weitere Informationen:

    http://archpsyc.ama-assn.org/cgi/content/short/63/6/659
    http://www.zi-mannheim.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).