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09.07.2006 13:00

Den Schmerz verlernen: Das Gehirn verarbeitet eine Vorstellung und nicht die Realität

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    Bei Patienten mit chronischen Schmerzen ist die Repräsentation des betroffenen Körperteils in der Großhirnrinde verändert. Das zeigen Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Professor Herta Flor von der Universität Heidelberg. Auf dem Forum der europäischen Neurowissenschaften berichtet die Neuropsychologin, dass solche Veränderungen mit Trainingsmethoden der Verhaltenstherapie rückgängig gemacht werden können.

    Chronischer Schmerz ist das Resultat verhängnisvoller Lernprozesse des Nervensystems, bei denen biologische, psychische und soziale Faktoren beteiligt sind. Die Lernprozesse verändern die schmerzverarbeitenden Teile des Nervensystems, die "Schmerzmatrix" auf allen Ebenen - im Rückenmark sowie in verschiedenen Bereichen des Gehirns bis hin zur Großhirnrinde. Dadurch werden Signale aus dem Körper auf allen diesen Ebenen bei Menschen mit chronischen Schmerzen anders verarbeitet als bei Gesunden.

    Die Arbeitsgruppe von Professor Herta Flor vom Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie der Universität Heidelberg am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim untersucht die Veränderungen im Gehirn von Schmerzpatienten und deren Beziehung zum Schmerzgeschehen. Ebenso suchen die Wissenschaftler nach Strategien, um diese Veränderungen mit Trainingsverfahren oder auch Verhaltenstherapie und pharmakologischen Verfahren wieder rückgängig zu machen.

    Das Forscherteam hat bei armamputierten Patienten mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) und anderen Verfahren die Repräsentation des Körpers im primären somatosensorischen Cortex untersucht, jenem Teil der Großhirnrinde, in dem einlaufende Sinnesreize verarbeitet werden. Auch den motorischen Cortex, der Bewegungsmeldungen verarbeitet, haben die Wissenschaftler untersucht. In diesen Arealen ist der ganze Körper in Form eines "Homunculus" gespiegelt. Wie Herta Flor auf dem Forum der europäischen Neurowissenschaften in Wien betonte, ist dieser Homunkulus bei Patienten, die an Phantomschmerzen leiden verändert: Benachbarte Repräsenationen, etwa die des Mundwinkels, sind in jene Regionen "eingewandert", wo zuvor der (amputierte) Arm repräsentiert war. Je stärker der Schmerz, desto ausgeprägter war die Veränderung. "Es sind", sagt Flor, "darüber hinaus auch noch weitere Regionen verändert, auch solche, die mit der affektiven Verarbeitung zu tun haben."

    Mit einem geschickt platzierten Spiegel sorgten die Mannheimer Wissenschaftler bei den Patienten dafür, dass diese bei Bewegungen den optischen Eindruck bekamen, dass ihr Arm noch vorhanden ist. Resultat: Die vormals geschrumpfte Repräsentation des Armes breitete sich aus, Impulse aus anderen Körperregionen, welche zuvor in das "verwaiste" Areal eingewandert waren, wurden verdrängt. Flor: "Das Gehirn verarbeitet eine Vorstellung und nicht die Realität." Wird ihm vorgegaukelt wird, der amputierte Arm sei noch vorhanden, kommt es zu Umbauprozessen, bei denen die geschrumpfte Repräsentation wieder hergestellt wird.

    Darüber hinaus untersuchen die Wissenschaftler, welche Auswirkungen eine kognitiv-verhaltensmedizinische Therapie - unterstützt durch eine Behandlung mit Cannabinoiden, die speziell für das Verlernen unangenehmer Gedächtnisinhalte wichtig sind - auf die veränderten Repräsentationen von Körperbereichen im Gehirn von Patienten mit Fibromyalgie haben. (Bei dieser Schmerzform sind vor allem Muskeln und Sehnen betroffen, die besonders druckschmerzempfindlich sind. Weitere Symptome, Schlafstörungen, oft auch Depressionen, kommen hinzu. Es gibt Hinweise, dass bei diesen Patientinnen - es sind überwiegend Frauen betroffen - die körpereigene Schmerzhemmung gestört ist.)

    Wenn die Patientinnen - auch unter Einbeziehung des Partners - systematisch lernen, ihre mit dem Schmerz verknüpften Verhaltensweisen zu ändern, kann dies die Chronifizierung der Schmerzen positiv beeinflussen. Wie Flor berichtet, reduzieren sich bei Patientinnen, die sich dieser operanten Verhaltenstherapie unterzogen, Schmerzintensität und Beeinträchtigung.

    Und auch bei diesen Patientinnen zeigt sich, dass Verfahren, die am Verhalten und der Psyche ansetzen, im Gehirn nicht weniger wirksam sind als pharmakologischen Strategien: Wie Flor berichtet, verkleinern sich bei diesen Patientinnen die zuvor vergrößerten Repräsentationen in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns..

    ABSTRAKT Nr. S09.2

    Notes to Editors
    Das Forum 2006 der Federation of European Neuroscience Societies (FENS) wird veranstaltet von der Österreichischen Gesellschaft für Neurowissenschaften und der Deutschen Neurowissenschaftlichen Gesellschaft. An der Tagung nehmen über 5000 Neurowissenschaftler teil. Die FENS wurde 1998 gegründet mit dem Ziel, Forschung und Ausbildung in den Neurowissenschaften zu fördern sowie die Neurowissenschaften gegenüber der Europäischen Kommission und anderen Drittmittelgebern zu vertreten. FENS ist der Europäische Partner der Amerikanischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (American Society for Neuroscience). Die FENS vertritt eine große Zahl europäischer neurowissenschaftlicher Gesellschaften und hat rund 16 000 Mitglieder.

    Pressestelle während der Tagung:
    Austria Center Wien
    Raum U 557
    Tel.: ++43-(0)1-26069-2025
    8. - 12. Juli 2006

    Nach der Tagung:
    Österreich, Schweiz, Deutschland
    Barbara Ritzert
    ProScience Communications
    Andechser Weg 17, D-82343 Pöcking
    Tel.: ++49-(0)8157-9397-0
    Fax: ++49-(0)8157-9397-97
    ritzert@proscience-com.de


    Weitere Informationen:

    http://fens2006.neurosciences.asso.fr/


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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