Forscher am Berliner Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft
(ZAS) verfolgen einen neuen Zugang zu der Frage, ob und wie die
Sprache das Denken beeinflussen kann -- nämlich durch die
Fähigkeit, Nebensätze bilden zu können. Die Ausgangshypothese ist
folgende: Menschen und Tiere können gleichermaßen die Welt in
einfache Kategorien wie "Regen" und "Mädchen" einteilen. Was den
Menschen aber auszeichnet, ist, hieraus unbegrenzt viele neue
Kategorien formen zu können, wie "ein Mädchen, das glaubt, dass es
regnet". Die Berliner Forscher untersuchen, ob dafür Fähigkeiten
nötig sind, die man im menschlichen Sprachvermögen findet.
Die Wissenschaftler arbeiten dabei mit Personengruppen, die Nebensätze
nicht oder in anderer Weise verwenden, als man es gewohnt ist:
Kinder, insbesondere solche, deren Spracherwerb verzögert ist, weil sie an
einer erblichen Sprachstörung leiden oder als gehörlose Kinder hörender
Eltern geboren wurden, und Angehörige des Stammes der Pirahã im
Amazonasgebiet, in deren Sprache -- so das Ergebnis langjährig
erhobener Forschungen -- keine Nebensätze vorkommen. Zusätzlich
soll bei Menschenaffen untersucht werden, ob etwa sie bereits,
entgegen der Erwartung, die kognitiven Fähigkeiten besitzen, für
die ein wesentlicher Einfluss der Sprache angenommen wird. Zusammen mit
dem Berliner Zentrum arbeiten an diesem Vorhaben Forscher der
Universitäten Manchester (England), St. Andrews (Schottland),
Groningen (Holland) und Potsdam mit. Das Vorhaben wird von der
Forschungskommission der Europäischen Union mit insgesamt 1,5
Millionen Euro unterstützt, wovon ca. 700000 Euro auf Berlin und
Potsdam entfallen.
Weshalb sind Nebensätze so interessant? "Zum einen führen
Nebensätze zu komplexen, verschachtelten Strukturen, denn es kommt
ja ein Satz in einem anderen vor. Man nennt solche Strukturen
rekursiv", erläutert Projektleiter Dr. Uli Sauerland, "und zum
anderen dienen Nebensätze als Ausdrucksmittel für das Berichten
von Meinungen anderer." Der Ansatzpunkt ist also, dass Nebensätze
es erlauben, die Einstellung anderer Personen wiederzugeben, auch
wenn der Sprecher selbst diese nicht teilt. Im Deutschen
verwendet man hierfür zum Beispiel die Ausdrücke "glauben dass"
und "annehmen dass". Das Vorhaben untersucht die Frage, ob
Nebensätze notwendig sind, um sich vorstellen zu können, dass
andere Personen anderer Meinung sind als man selbst -- eine
Fähigkeit, die man als "Theory of Mind" bezeichnet. Wie stellt
man fest, ob sich eine Person vorstellen kann, dass eine andere
Person anderer Meinung ist? Durch Experimente der folgenden Art:
Die Versuchsperson betrachtet eine Szene in einem Zimmer, in dem
sich ein Junge befindet, der einen Schokoriegel in der Hand hat.
Der Junge versteckt den Schokoriegel in einem Schrank und verlässt
das Zimmer. In dieser Zeit nimmt ein Mädchen den Riegel aus dem
Schrank und versteckt ihn unter dem Sofa. Nun kommt der Junge
zurück, um seinen Schokoriegel zu holen. Zu diesem Zeitpunkt wird
experimentell bestimmt, wo die Versuchsperson erwartet, dass das
Kind nach dem Riegel suchen wird: im Schrank oder unter dem Sofa.
Nur wenn die Versuchsperson erwartet, dass der Junge im Schrank
sucht, kann sie zwischen dem Wissen des Jungen und ihrem eigenen
unterscheiden. Tatsächlich können Kinder bis zum Alter von etwa
dreieinhalb Jahren das noch nicht. Sie denken also, dass der
Junge dort suchen wird, wo sie selbst den Schokoriegel wähnen:
unter dem Sofa.
Das neue Vorhaben, das unter der Bezeichnung "Characterizing Human
Language by Structural Complexity" (CHLaSC) läuft, testet zum
einen das Vermögen, Nebensätze zu bilden, und zum anderen die
Fähigkeit, anderen Personen eine eigene Meinung zuzuschreiben.
Fünf Probandengruppen werden dabei untersucht: Schimpansen,
Säuglinge, Kinder mit durch Gehörlosigkeit verzögertem
Spracherwerb, Kinder mit einer erblichen
Sprachentwicklungstörung und schließlich
die etwa 150 Sprecher der Pirahã-Sprache, der einzigen
überlebenden Sprache der Mura-Sprachfamilie, gesprochen am
Maici-Fluss im Amazonasgebiet. In dieser Sprache werden anstelle
von Nebensätzen spezielle Markierungen verwendet, sogenannte
Evidentiale, die anzeigen, ob eine Aussage auf eigener Erfahrung
beruht oder auf dem Wissen eines anderen. Viele Sprachen besitzen
Evidentiale, darunter auch das Deutsche, etwa in Konstruktionen
der Art "Max will den Mount Everest bestiegen haben". Es gibt im
Deutschen aber natürlich auch Nebensätze, wie "Max behauptet, dass
er den Mount Everest bestiegen hat". Der fundamentale Unterschied
zu Evidentialen besteht darin, dass Nebensätze andere Nebensätze
einbetten können: "Eva behauptet, dass Max behauptet, dass er den
Mount Everest bestiegen hat". Bei Evidential-Markierungen ist das
ausgeschlossen, da jeder Satz nur eine einzige solche Markierung
tragen kann. Das neue Vorhaben wird untersuchen, ob dieser
Unterschied sich auf das Vorstellungsvermögen der Pirahã über die
Meinung anderer Personen auswirkt.
Kontakt:
Prof. Dr. Manfred Krifka, Direktor
Zentrum für allgemeine Sprachwissenschaft
Jägerstr. 10-11
10117 Berlin
Tel.: 030-20192-400
030-2093-9670
0171-7497226
http://www.zas.gwz-berlin.de/chlasc - Internetseiten des Forschungsvorhabens in Englisch
der Maici-Fluß im Amazonasgebiet
(c) 2006 D. Everett
None
eine Angehörige des Piraha-Stamms in Strandhaus am Maici-Fluß
(c) 2006 D. Everett
None
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Psychologie, Sprache / Literatur
regional
Forschungsprojekte
Deutsch
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