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23.07.2006 14:56

Komplexität in Sprache und Denken: EU fördert Berliner Wissenschaftler mit 1,5 Millionen Euro

Prof. Manfred Krifka Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS)
Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. (GWZ)

    Forscher am Berliner Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft
    (ZAS) verfolgen einen neuen Zugang zu der Frage, ob und wie die
    Sprache das Denken beeinflussen kann -- nämlich durch die
    Fähigkeit, Nebensätze bilden zu können. Die Ausgangshypothese ist
    folgende: Menschen und Tiere können gleichermaßen die Welt in
    einfache Kategorien wie "Regen" und "Mädchen" einteilen. Was den
    Menschen aber auszeichnet, ist, hieraus unbegrenzt viele neue
    Kategorien formen zu können, wie "ein Mädchen, das glaubt, dass es
    regnet". Die Berliner Forscher untersuchen, ob dafür Fähigkeiten
    nötig sind, die man im menschlichen Sprachvermögen findet.

    Die Wissenschaftler arbeiten dabei mit Personengruppen, die Nebensätze
    nicht oder in anderer Weise verwenden, als man es gewohnt ist:
    Kinder, insbesondere solche, deren Spracherwerb verzögert ist, weil sie an
    einer erblichen Sprachstörung leiden oder als gehörlose Kinder hörender
    Eltern geboren wurden, und Angehörige des Stammes der Pirahã im
    Amazonasgebiet, in deren Sprache -- so das Ergebnis langjährig
    erhobener Forschungen -- keine Nebensätze vorkommen. Zusätzlich
    soll bei Menschenaffen untersucht werden, ob etwa sie bereits,
    entgegen der Erwartung, die kognitiven Fähigkeiten besitzen, für
    die ein wesentlicher Einfluss der Sprache angenommen wird. Zusammen mit
    dem Berliner Zentrum arbeiten an diesem Vorhaben Forscher der
    Universitäten Manchester (England), St. Andrews (Schottland),
    Groningen (Holland) und Potsdam mit. Das Vorhaben wird von der
    Forschungskommission der Europäischen Union mit insgesamt 1,5
    Millionen Euro unterstützt, wovon ca. 700000 Euro auf Berlin und
    Potsdam entfallen.

    Weshalb sind Nebensätze so interessant? "Zum einen führen
    Nebensätze zu komplexen, verschachtelten Strukturen, denn es kommt
    ja ein Satz in einem anderen vor. Man nennt solche Strukturen
    rekursiv", erläutert Projektleiter Dr. Uli Sauerland, "und zum
    anderen dienen Nebensätze als Ausdrucksmittel für das Berichten
    von Meinungen anderer." Der Ansatzpunkt ist also, dass Nebensätze
    es erlauben, die Einstellung anderer Personen wiederzugeben, auch
    wenn der Sprecher selbst diese nicht teilt. Im Deutschen
    verwendet man hierfür zum Beispiel die Ausdrücke "glauben dass"
    und "annehmen dass". Das Vorhaben untersucht die Frage, ob
    Nebensätze notwendig sind, um sich vorstellen zu können, dass
    andere Personen anderer Meinung sind als man selbst -- eine
    Fähigkeit, die man als "Theory of Mind" bezeichnet. Wie stellt
    man fest, ob sich eine Person vorstellen kann, dass eine andere
    Person anderer Meinung ist? Durch Experimente der folgenden Art:
    Die Versuchsperson betrachtet eine Szene in einem Zimmer, in dem
    sich ein Junge befindet, der einen Schokoriegel in der Hand hat.
    Der Junge versteckt den Schokoriegel in einem Schrank und verlässt
    das Zimmer. In dieser Zeit nimmt ein Mädchen den Riegel aus dem
    Schrank und versteckt ihn unter dem Sofa. Nun kommt der Junge
    zurück, um seinen Schokoriegel zu holen. Zu diesem Zeitpunkt wird
    experimentell bestimmt, wo die Versuchsperson erwartet, dass das
    Kind nach dem Riegel suchen wird: im Schrank oder unter dem Sofa.
    Nur wenn die Versuchsperson erwartet, dass der Junge im Schrank
    sucht, kann sie zwischen dem Wissen des Jungen und ihrem eigenen
    unterscheiden. Tatsächlich können Kinder bis zum Alter von etwa
    dreieinhalb Jahren das noch nicht. Sie denken also, dass der
    Junge dort suchen wird, wo sie selbst den Schokoriegel wähnen:
    unter dem Sofa.

    Das neue Vorhaben, das unter der Bezeichnung "Characterizing Human
    Language by Structural Complexity" (CHLaSC) läuft, testet zum
    einen das Vermögen, Nebensätze zu bilden, und zum anderen die
    Fähigkeit, anderen Personen eine eigene Meinung zuzuschreiben.
    Fünf Probandengruppen werden dabei untersucht: Schimpansen,
    Säuglinge, Kinder mit durch Gehörlosigkeit verzögertem
    Spracherwerb, Kinder mit einer erblichen
    Sprachentwicklungstörung und schließlich
    die etwa 150 Sprecher der Pirahã-Sprache, der einzigen
    überlebenden Sprache der Mura-Sprachfamilie, gesprochen am
    Maici-Fluss im Amazonasgebiet. In dieser Sprache werden anstelle
    von Nebensätzen spezielle Markierungen verwendet, sogenannte
    Evidentiale, die anzeigen, ob eine Aussage auf eigener Erfahrung
    beruht oder auf dem Wissen eines anderen. Viele Sprachen besitzen
    Evidentiale, darunter auch das Deutsche, etwa in Konstruktionen
    der Art "Max will den Mount Everest bestiegen haben". Es gibt im
    Deutschen aber natürlich auch Nebensätze, wie "Max behauptet, dass
    er den Mount Everest bestiegen hat". Der fundamentale Unterschied
    zu Evidentialen besteht darin, dass Nebensätze andere Nebensätze
    einbetten können: "Eva behauptet, dass Max behauptet, dass er den
    Mount Everest bestiegen hat". Bei Evidential-Markierungen ist das
    ausgeschlossen, da jeder Satz nur eine einzige solche Markierung
    tragen kann. Das neue Vorhaben wird untersuchen, ob dieser
    Unterschied sich auf das Vorstellungsvermögen der Pirahã über die
    Meinung anderer Personen auswirkt.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Manfred Krifka, Direktor
    Zentrum für allgemeine Sprachwissenschaft
    Jägerstr. 10-11
    10117 Berlin

    Tel.: 030-20192-400
    030-2093-9670
    0171-7497226


    Weitere Informationen:

    http://www.zas.gwz-berlin.de/chlasc - Internetseiten des Forschungsvorhabens in Englisch


    Bilder

    der Maici-Fluß im Amazonasgebiet
    der Maici-Fluß im Amazonasgebiet
    (c) 2006 D. Everett
    None

    eine Angehörige des Piraha-Stamms in Strandhaus am Maici-Fluß
    eine Angehörige des Piraha-Stamms in Strandhaus am Maici-Fluß
    (c) 2006 D. Everett
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Psychologie, Sprache / Literatur
    regional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    der Maici-Fluß im Amazonasgebiet


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