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28.01.2000 08:54

"Wie die DDR wirklich funktioniert hat"

Axel Burchardt Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Jenaer Soziologen analysieren die Elite des Arbeiter- und Bauernstaats

    Jena (28.01.00) Die Leitungskräfte in der DDR rekrutierten sich, je konsolidierter der sozialistische Staat wurde, immer stärker aus der Intelligenz, also aus sich selbst heraus. Der Anspruch der DDR, die Elite aus Arbeitern und Bauern zu gewinnen, wurde im Lauf der Zeit immer weniger verwirklicht. "Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde immer größer", formuliert Prof. Dr. Heinrich Best vorsichtig die ersten Ergebnisse eines umfassenden Forschungsprojekts der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

    Das Soziologen-Team um Prof. Best und Dr. Stefan Hornbostel hatte dabei das Glück, auf den bis Anfang 1990 geführten zentralen Kaderdatenspeicher der DDR zugreifen zu können. Damit stehen den Jenaer Forschern - anonymisierte - Daten über etwa 380.000 Kader aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik zur Verfügung und sie erhalten "Auskunft über die soziale Herkunft, Bildungsstand, politische Bindungen und den Werdegang der Elite in der DDR", erläutert Prof. Best. Der Begriff "Kader" wurde allerdings diffus benutzt, so dass nicht nur die hohen Nomenklaturkader sondern auch Leitungstätigkeiten auf den untersten Ebenen erfasst wurden. Entsprechend wussten einige Betroffene gar nicht, dass sie im Kaderdatenspeicher geführt wurden und welchen Status sie hatten.

    Bisher haben sich die Soziologen nur den 80er Jahren gewidmet. Diese Erkenntnisse stecken u. a. in dem jüngst erschienenen Buch "Sozialistische Eliten" (Leske + Budrich, Opladen 1999), das Stefan Hornbostel herausgegeben hat. Die Informationen, die die DDR selbst über ihre Kader gesammelt hat, geben ein Bild davon ab, "wie die DDR wirklich funktioniert hat", sagt Prof. Best. Auch in der DDR agierte nicht der sozialistische Mensch, sondern eine durchaus heterogene Elite, die z. T. über Traditionen und Milieueinbindungen verfügte, die selbst durch den Sozialismus nicht gebrochen wurden.

    Andere Selbstbilder müssen ebenfalls dank der hervorragenden Daten zu Recht gerückt werden. "Der Anteil der Frauen nimmt über die Hierarchieebenen kontinuierlich ab", nennt Prof. Best ein Beispiel. "Strukturell unterscheidet sich das vom Westen kaum", ergänzt Dr. Hornbostel und weist auf eine Ausnahme: die Räte der Bezirke. Dort, im politisch kontrollierten Sektor, existierte ein Quotenfrauen-Phänomen, das sich aber auf der zentralen Ebene, z. B. in den Ministerien, nicht fortsetzte.

    "Im Wirtschaftsbereich ist es die Fachqualifikation, die zählt", tritt Prof. Best einem weiteren Vorurteil entgegen. Die Führungsebene war zwar in erheblichem Maße überbesetzt, wodurch auch politische Kader in den Betrieben überleben konnten, aber auf der Arbeitsebene war es die fachliche Qualifikation, die jemanden zum Leiter machte und nach der Wende vielen Industriemanagern das Bleiben ermöglichte. Außerdem wurde eine SED-Mitgliedschaft für Hochschüler in den 80er Jahren immer normaler und war damit nicht notwendigerweise ein Garant für Linientreue. "Auch in der DDR wurde die Wertbindung immer geringer", nennt Prof. Best einen weiteren Grund für die Lösung aus der politischen Kontrolle.

    Diese Entwicklungen "deuten darauf hin, dass keineswegs alles vollständig politisiert wurde", analysiert Dr. Hornbostel. Nicht alle Kaderpositionen in den Betrieben und einigen Kombinaten waren mit SED-Mitgliedern besetzt, auch weil es teilweise schwer war, geeignete parteitreue Funktionsträger zu finden. "Die unmittelbare politische Kontrolle ist zum Teil bewusst zurückgenommen worden", hat Hornbostel ermittelt. Andererseits sind die Betriebe aus der politischen Obhut auch deshalb entlassen worden, weil sie nicht so kontrollbedürftig waren, denn die Aufsicht erfolgte von Außen, durch Partei und Staat.

    Es gab keine einheitliche Elite der DDR, sondern "ein Ensemble von Individuen", fasst Prof. Best zusammen. Dieses Ensemble entwickelte sich im Lauf der Jahre planwidrig durch Selbstrekrutierung weiter. Der Kaderdatenspeicher, der zunächst dazu diente, das eigene Humankapital zu erfassen, zu qualifizieren und zu kontrollieren, lieferte der Staatsführung eine gute und umfangreiche Datensammlung über die Führungsgruppen und deren Zusammensetzung - also über die Elite der DDR jenseits der Parteielite. "Das Wissen um den eigenen Zustand war vorhanden", ist sich Best sicher, "aber die Erkenntnisse sind nicht wahrgenommen worden" - nur so wurde auch die Wende möglich.

    Ansprechpartner:
    Prof. Dr. Heinrich Best/Dr. Stefan Hornbostel
    Institut für Soziologie der Universität Jena
    Otto-Schott-Str. 41
    07745 Jena
    Tel.: 03641/945540
    Fax: 03641/945542
    E-Mail: best@soziologie.uni-jena.de


    Friedrich-Schiller-Universität
    Referat Öffentlichkeitsarbeit
    Axel Burchardt M. A.
    Fürstengraben 1
    07743 Jena
    Tel.: 03641/931041
    Fax: 03641/931042
    E-Mail: hab@sokrates.verwaltung.uni-jena.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Psychologie, Religion, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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