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19.06.1996 00:00

Jugendgewalt

Kai Uwe Bohn Hochschulkommunikation und -marketing
Universität Bremen

    UNIVERSITAET BREMEN - Nr. 067 / 19. Juni 1996 KUB

    Bremer Wissenschaftler: Jugendgewalt ist eine radikale Variante unseres Selbstbewusstsein-Kultes

    Jugendgewalt ist k e i n Produkt der Gewalt in den Medien

    Dies ist nur eine der Thesen, die Freerk Huisken, Professor der Erziehungswissenschaften an der Universitaet Bremen, vertritt. In einer aktuellen Forschungsarbeit zum Thema "Jugendgewalt" hat Huisken nach den Ursachen fuer dieses gesellschaftlich brisante Phaenomen gefragt - und neue wissenschaftliche Antworten gefunden. Die Erkenntnisse des Bremer Hochschullehrers stellen dabei die Ergebnisse bisheriger Untersuchungen - z.B. der bekannten Bielefelder Professoren Klaus Hurrelmann und Wilhelm Heitmeyer - prinzipiell in Frage.

    In seiner zentralen These weist Huisken die Diagnose zurueck, dass es gewalttaetigen Kindern und Jugendlichen an Selbstbewusstsein fehle. Es verhalte sich genau umgekehrt, so der Bremer Hochschullehrer: Jugendgewalt ist nur eine radikale Variante des Selbstbewusstsein-Kultes, der in unserer Gesellschaft - zu Unrecht - allgemein geachtet und praktiziert wird.

    Freerk Huisken kritisiert, dass unter dem Etikett "Jugendgewalt" Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst werden, die voellig unterschiedliche Ursachen haben. Niemand kommt auf den Gedanken, Fussballfouls, Vergewaltigungen oder Kriege pauschal als "Erwachsenengewalt" zu bezeichnen. Ebenso ist es unzulaessig, von "der Jugendgewalt" zu sprechen. Politisch motivierte Gewalttaten gegen Auslaender, "kriminelles Verhalten" (z.B. Eigentumsdelikte), die klassische "Schueler-Disziplinlosigkeit" oder die scheinbar sinnlose Roheit der Kinder und Jugendlichen im Umgang untereinander sind Phaenomene unterschiedlichen Ursprungs, die sich nicht unter diesem Begriff abbuchen lassen. Huiskens Vermutung: Diese theoretische Gleichmacherei entsteht, weil die nachwachsende Generation allein am Massstab der reibungslosen Einordnung in die bestehende Gesellschaftsordung gemessen wird.

    Die neuerdings gehaeuft auftretende geistige Roheit, die sich in sprachlicher und koerperlicher Brutalitaet zwischen Kindern und Jugendlichen aeussert, erklaert Huisken mit deren Drang nach Geltung und Anerkennung. Die jungen Menschen brechen bewusst moralische, soziale und institutionelle Regeln. Sie lassen sich dabei nicht von den Folgen abschrecken, die dies fuer sie oder ihre Opfer hat. Der Grund ist ein Motiv, das in der Erwachsenenwelt gut bekannt ist: Diese Kinder und Jugendlichen wollen sich gegenueber anderen als Ueberlegene Individuen in Szene setzen. Sie machen ihren Anspruch auf Geltung deutlich und setzen ihn in einer Weise durch, die keinen Widerspruch duldet.

    Dabei machen sie sich gar nicht erst davon abhaengig, dass ihnen von anderen aus freien Stuecken Anerkennung entgegengebracht wird. Vielmehr stellen sie das Ueberlegenheits-Verhaeltnis entschlossen und ruecksichtslos her und erzwingen so die Anerkennung. Der letzte Schritt - das Opfer auch durch koerperliche Gewalt zum Unterlegenen zu machen - liegt dabei nahe. Mitleid mit dem Opfer ist dabei unangebracht. Der Wunsch, sich als Ueberlegene und "coole Typen" vorzufuehren und dies auch zu geniessen, ist den gewalttaetigen Kindern und Jugendlichen so wichtig, dass sie alle Regeln brechen.

    Aufgrund dieser Analyse kommt Huisken zu dem Urteil, dass alle bestehenden "klassischen Erklaerungen" fuer "die Jugendgewalt" die Sache nicht treffen. Jugendgewalt als Ergebnis der Gewalt in den Medien ist fuer den Bremer Hochschullehrer eine gaenzlich unzutreffende Theorie. Wie brutal die Fernsehbilder auch sind - sie produzieren nicht automatisch bzw. urteilslos kindliche Gewalttaeter. Es kommt vielmehr darauf an, welche urteilende Stellung der jugendliche Zuschauer hat. Nur wer Gewalttaetigkeit bereits als Mittel akzeptiert hat, laesst sich vom Fernsehen anregen. Wer hingegen das Brechen des Willens durch Gewalt als Mittel zur Verfolgung eigener Ziele verabscheut, der verabscheut auch Gewaltdarstellungen und ist immun gegen das "Imitationslernen".

    Ebenso weist Freerk Huisken die Theorie zurueck, dass sich gesellschaftliche Verlierer in gewalttaetigen Aktionen abreagieren. Ob ein Heranwachsender betruebt, resignierend oder gleichgUeltig auf schulischen oder sozialen Misserfolg reagiert oder ob er diesen nicht wahrhaben will und deshalb kompensierend "zuschlaegt", haengt ganz vom Selbstbefund ab, zu dem er es bis dahin gebracht hat.

    Gewalttaetigen Kindern und Jugendlichen, so das Fazit Huiskens, fehlt es demnach nicht an Selbstbewusstsein - wie von vielen Theoretikern behauptet. Vielmehr ist ihre Gewalt eine Auspraegung des Selbstbewusstsein-Kultes unserer Gesellschaft. In der Erwachsenen-Welt gehe es tagtaeglich darum, sich als der Bessere, Staerkere, Schoenere und Erfolgreichere zu praesentieren. Dies geschieht in der Regel in zivilisierten Formen, weil Erwachsene eine kalkulierende Ruecksichtnahme auf die Folgen ihres Tuns nehmen muessen. Bei Kindern und Jugendlichen ist dies anders: Sie mUessen ihren Lebensunterhalt noch nicht selbst sichern und deshalb nicht Ueberlegen, welche Konsequenzen ihre Selbstdarstellungsbemuehungen haben.

    Die heutige Erziehung, so Huisken, foerdert die Verrohung der Kinder und Jugendlichen. Aus familialer Not oder aus paedagogischer Absicht heraus fordert sie Heranwachsende einerseits zu mehr Selbstaendigkeit und Selbstbewusstsein auf. Andererseits enthaelt sie den Kindern aber alle Mittel vor, sich entsprechend zu betaetigen. Das allgemeine Erschrecken Ueber die "ausgerasteten Kids" ist fuer Freerk Huisken somit nicht mehr als eine "objektive Heuchelei". Die Erwachsenen wollen nicht wahrhaben, dass Kinder in gewisser Hinsicht das Spiegelbild ihrer eigenen Psychologie sind, mit der sie versuchen, in der buergerlichen Welt zurechtzukommen.

    Die Forschungsergebnisse von Freerk Huisken sind unter dem Titel "Jugendgewalt. Der Kult des Selbstbewusstseins und seine unerwuenschten Fruechtchen" auch im VSA-Verlag Hamburg erschienen.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Politik, Psychologie, Recht
    überregional
    Es wurden keine Arten angegeben
    Deutsch


     

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