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04.10.2006 12:31

RUB-Studie analysiert erstmals katholische Studierende von 1945 bis 1973

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    Hatte das "katholische Milieu" die Studierenden der Nachkriegsgeneration vor Orientierungslosigkeit und Desillusionierung durch den Nationalsozialismus bewahrt, so ging in der Phase der Umorientierung aus der "gut katholischen" Kinderstube eine Vielfalt an individueller Religiosität und Kirchenbindung hervor. Mit seiner Arbeit "Katholische Studierende 1945-1973, Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" widmet sich Dr. Christian Schmidtmann (Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Prof. Dr. Wilhelm Damberg) einem längst fälligen, bislang weitgehend unbearbeiteten kirchengeschichtlichen Forschungsfeld. Dabei untersucht er - selbst frei von Rechtfertigungsdruck und Betroffenheit eigenen Zeiterlebens - den Katholizismus erstmals als historisch wirksamen Faktor der Nachkriegszeit.

    Bochum, 04.10.2006
    Nr. 330

    "Gut katholisch": Kirchgang, Klosterschule, Korporation
    Aus dem "katholischen Milieu" in die individuelle Religiosität
    Studie analysiert erstmals katholische Studierende von 1945 bis 1973

    Hatte das "katholische Milieu" die Studierenden der Nachkriegsgeneration vor Orientierungslosigkeit und Desillusionierung durch den Nationalsozialismus bewahrt, so ging in der Phase der Umorientierung aus der "gut katholischen" Kinderstube eine Vielfalt an individueller Religiosität und Kirchenbindung hervor. Mit seiner Arbeit "Katholische Studierende 1945-1973, Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" widmet sich Dr. Christian Schmidtmann (Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Prof. Dr. Wilhelm Damberg) einem längst fälligen, bislang weitgehend unbearbeiteten kirchengeschichtlichen Forschungsfeld. Dabei untersucht er - selbst frei von Rechtfertigungsdruck und Betroffenheit eigenen Zeiterlebens - den Katholizismus erstmals als historisch wirksamen Faktor der Nachkriegszeit.

    Die "Ratzinger-Generation"

    "Als nach einer langen Schönwetterperiode Regen einsetzte, bildeten sich Zeltgemeinschaften, in denen man notdürftig vor den Unbilden des Wetters geschützt war. Vor uns ... der majestätische Bau des Ulmer Münsters ... wie eine tröstliche Botschaft von der nicht untergegangenen Menschlichkeit und des Glaubens.", so erinnert Joseph Ratzinger noch als Kardinal das Lebensgefühl der NS- und Nachkriegszeit. Interviews mit zahlreichen Vertretern seiner Generation widerlegen den Kollaps des politischen Weltbildes, den die Forschung auch katholischen Akademikern immer wieder zuschrieb. "Wir alle lebten in einem Gefühl des Aufbruchs, ...einer Theologie und Spiritualität, die Veraltetes und Verstaubtes abtat, ..." (J. Ratzinger), die "Abgrenzung gegenüber den 'Alten Herren' der Korporation" (R. Barzel) forderte oder ihr Misstrauen gegenüber Wahlhirtenbriefen und der Verquickung von Katholizismus und Adenauerstaat (E.-W. Böckenförde) aussprach. Von der Vätergeneration grenzte man sich ab, wollte aber zugleich das, was die NS-Zeit brauchbar überstanden hatte (etwa Elemente der Jugendbewegung), weiterführen.

    Kirchenkritische 1960er-Generation

    "Das religiös durchsättigte Milieu der Kindheit und die Dinge, die ich eigentlich für zentral gehalten hatte, waren an der Universität plötzlich irgendwie verschwunden", stellt die spätere Historikerin Johanna Ehlers fest. Ende der 50er und in den 60er Jahren setzte bei den nun nicht mehr durch den Nationalsozialismus geprägten katholischen Studierenden, ein entschiedener und kämpferischer Umorientierungsprozess ein. Im Vergleich zu den "älteren Studierenden" wurde nun das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft neu bestimmt. Politische Entscheidungen begründeten sich nicht mehr selbstverständlich aus der katholischen Identität heraus. Der Wunsch nach einer Christlichkeit, die sich am individuellen Handeln beweist, "nach Pluralismus innerhalb der Kirche und nach einem Durchbrechen des katholischen Ghettos" (P. Hertel) machte die evangelische Exegese der Bultmann-Schule interessant sowie Carl Amery und Heinrich Böll zu Protagonisten dieser Studentengeneration. Es bildeten sich ganz unterschiedliche katholische Identitäten heraus, die z.T. bis heute nachwirken.

    Plädoyer für Mehrstimmigkeit

    In der Zeit der Studentenbewegung endete die Phase der Umorientierung und in den Studentengemeinden und -verbänden kehrte wieder Ruhe ein. Dennoch bleiben die Ordnungsmodelle von Amery, Böll und anderen Nonkonformisten relevant und werden gerade heute wieder diskutiert: Sie stellten dem "unchristlichen" Mehrheitskatholizismus (Milieu) eine "christliche" Minderheitenposition gegenüber, im Sinne einer Elite, die außerhalb des Milieus agierend der wahren Botschaft treu bleibt. Die Studie, die sich ausdrücklich an der Kirchengeschichte und nicht an der Theologie orientiert, plädiert dennoch theologisch für Vielfalt, für Mehrstimmigkeit, für Unsicherheit, für eine Theologie auch des vermissten Gottes.

    Quellen erstmals erschlossen

    Der umfassenden Studie liegt eine bis dahin ungehobene Datenfülle zugrunde: Allein acht Archive wurden ausgewertet, darunter erstmals der Bestand der Katholischen Deutschen Studenteneinigung (KDSE/AGG) im Forum Hochschule und Kirche in Bonn sowie der KSG in der katholischen Studentengemeinde Bonn. Hinzu kommen 261 Jahrgänge von studentennahen oder direkt von Studierenden verfassten Zeitungen und Zeitschriften und etwa 50 Stunden Bandaufzeichnungen aus Interviews mit katholischen Studierenden zwischen 1945 und 1973.

    Titelaufnahme

    Dr. Christian Schmidtmann, "Katholische Studierende 1945-1973/Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland", Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Verlag Ferdinand Schöningh, 2006, ISBN 3-506-72873-3

    Weitere Informationen

    Dr. Christian Schmidtmann, Prof. Dr. Wilhelm Damberg, Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Katholisch-Theologische Fakultät, Tel.: 0234/ 32-28109, E-Mail: wilhelm.damberg@ruhr-uni-bochum.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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