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16.02.2000 13:18

Behandlung der Seele als Bestandteil der Medizin

Dipl.Pol. Justin Westhoff UKBF-Pressestelle / MWM-Vermittlung
Universitätsklinikum Benjamin Franklin

    Mediendienst Nr. 67 vom 16.2.2000 - Instituts-Porträt
    Die Psychosomatik-Abteilung am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der FU Berlin

    Ursula W., 19 Jahre, kommt auf Anraten ihrer Ärztin in die Psychosomatische Abteilung des Universitätsklinikums Benjamin Franklin (UKBF) der Freien Universität Berlin. Der Hausärztin gegenüber hatte sie zunächst nur über unspezifische Beschwerden wie wiederkehrende Magenschmerzen, Störungen der Monatsblutung, Müdigkeit und Abgeschlagenheit geklagt. Bei der körperlichen Untersuchung war der Ärztin aufgefallen, dass bei der Patientin auch die Speicheldrüsen geschwollen waren. In den Blutproben fand sich eine Erniedrigung des Kaliumspiegels.
    Auf die Hausärztin machte Ursula W. einen sehr bedrückten Eindruck. Im Anschluss an die reguläre Sprechstunde führte sie mit ihrer Patientin ein Gespräch. So fasste sich Ursula W. ein Herz und gab ein lange gehütetes Geheimnis preis: Seit sich ihr Freund ein halbes Jahr zuvor von ihr getrennt hatte, fing sie zu fasten an, weil sie sich "unattraktiv" fand. Überhaupt hielt sie sich für viel zu dick und glaubte auch, dass ihr Freund sie deswegen verlassen hätte. Episoden von Nahrungsverweigerung und wiederholte Essattacken mit Kontrollverlust traten im Wechsel auf. Ursula W. hasste sich deswegen immer mehr. Fast nach jeder Malzeit steckte sie sich den Finger in den Hals, um zu erbrechen. Seelisch und körperlich war sie am Ende.
    Nach wenigen Tagen einer Diagnostik- und Beratungsphase in der Eßstörungssprech-stunde des UKBF war Ursula W. bereit, die Vermittlung in eine stationäre psychosomatische Behandlung zu akzeptieren.
    Diese "Fress-Brech-Sucht" (Bulimia nervosa, Bulimie) ist nicht selten: Unter den 15-35jährigen Frauen in Deutschland leiden über vier Prozent daran, weitere rund ein Prozent sind von einer Magersucht (Anorexia nervosa) betroffen. Diese beiden Eßstörungen zusammengenommen kommen in Deutschland daher genauso oft vor wie die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)!

    Seit 1987 stellen die Eßstörungen einen Forschungsschwerpunkt der Psychosomatischen Abteilung im Universitätsklinikum Benjamin Franklin dar.
    Die weltweit größte Eßstörungsstudie (mit über 1100 Patientinnen und Patienten) hatte im UKBF ihr Regionalzentrum für Berlin-Brandenburg eingerichtet. Erste von den FU-Psychosomatikern veröffentlichte Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass mittlerweile auch Männer - insbesondere bi- oder homosexuelle Männer - ein erhöhtes Risiko haben, an Bulimie (seltener an anorexia nervosa) zu erkranken. Das hängt offenbar mit dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal zusammen, dem sich heterosexuelle Frauen und bi- bzw. homosexuelle Männer stärker unterwerfen als heterosexuelle Männer und homosexuelle Frauen.
    Intensiv haben sich Forscherinnen und Forscher dieser Abteilung auch mit der Bedeutung sexueller Misshandlungen für die Entwicklung von Eßstörungen befasst. Hier konnte allerdings gezeigt werden, dass sexuelle Misshandlungen zwar - ähnlich wie andere körperliche Gewalt - generell ein großes Risiko für die Entwicklung verschiedener seelischer Störungen darstellt. Jedoch führen solche Erfahrungen keineswegs zwingend zu einer Eßstörung.
    Auf großes Interesse in der Fachwelt stießen auch die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Hormonstudien der FU-Psychosomatik, die sich mit der Bedeutung des neu entdeckten Leptins für anorektische und bulimische Frauen befassten. In Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Marburg konnte bewiesen werden, dass ein minimaler Leptinspiegel nicht nur der Regulation des Essverhaltens dient, sondern darüber hinaus auch Voraussetzung für einen regulären Menstruationszyklus der Frau ist. Die Menstruation ist aber bei allen magersüchtigen und oft auch bei den an Bulimie leidenden Frauen gestört.

    Eßstörungen sind nur ein Beispiel für die Arbeit der Psychosomatischen Abteilung des UKBF. Sie wird vor allem von Patientinnen und Patienten aufgesucht, die an "funktionellen Organstörungen" - also nicht hauptsächlich körperlich verursachten Beschwerden - leiden. Dazu gehören etwa Herzrasen oder Spannungskopfschmerzen. Daneben gibt es Spezialsprechstunden für Patientinnen und Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen, Asthma, und vor allem auch Bluthochdruck. Diese seelisch mitverursachten, körperlichen Krankheiten ("Psychosomatosen") werden ebenfalls seit Jahren in der Psychosomatik des FU-Klinikums intensiv beforscht.
    Die psychosomatische Behandlung ist durch die gleichzeitige Anwendung verschiedener Methoden gekennzeichnet. Die verschiedenen therapeutischen Verfahren werden parallel oder nacheinander angewandt und im Team der Mitarbeiter aufeinander abgestimmt.
    Die ärztlichen Mitarbeiter sind in der Regel Fachärzte für Innere Medizin oder für Psychotherapeutische Medizin und verfügen über eine psychoanalytische Weiterbildung. Das Konzept der Abteilung ist tiefenpsychologisch orientiert, schließt aber auch Elemente der Verhaltenstherapie und der systemischen Familientherapie mit ein.
    Zwar hat die Abteilung selbst derzeit keine eigene Bettenstation mehr, psychosomatisch erkrankte Menschen können aber bei Bedarf in Belegbetten anderer Abteilungen des UKBF auch stationär behandelt werden.
    Das Angebot der Psychosomatik im UKBF umfasst:
    ° psychosomatische Beratung und Behandlung in Einzelgesprächen,
    ° Gruppentherapie-Sitzungen zur Krankheitsverarbeitung (auch bei gestörter Verarbeitung primär körperlicher Erkrankungen),
    ° autogenes Training und andere Entspannungsmethoden,
    ° Biofeedback-Techniken bei funktionellen und Schmerz-Störungen,
    ° Verhaltensmodifikation und Hilfe bei der Veränderung des Lebensstiles bei Eßstörungen,
    ° medizinisch-somatische Diagnostik,
    ° Differentialdiagnostik und Therapie(bei Bedarf in Kooperation mit anderen Fachabteilungen),
    ° konzentrative Bewegungstherapie,
    ° Gestaltungstherapie (mit kreativen Medien, z.B. Malen).
    Dass psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungen wirksam sind, ist - entgegen anders lautender Behauptungen - sehr gut erforscht und belegt. Patientinnen und Patienten, die psychosomatisch oder psychotherapeutisch behandelt wurden, sind insgesamt weniger krank, nehmen seltener Medikamente ein und fühlen sich vor allem auch hinterher deutlich besser als vor der Therapie.
    Obwohl die Ärztinnen und Ärzte der FU-Psychosomatik vielen Ratsuchenden therapeutischen Beistand bieten oder auch durch die Vermittlung einer Psychotherapie weiterhelfen können, treten oft dann Schwierigkeiten auf, wenn schwer leidende Patientinnen und Patienten einer stationären Therapie bedürfen (etwa Kranke mit Angststörungen oder Magersucht). Die Vermittlung eines stationären psychosomatischen Behandlungsplatzes in Berlin geht oft mit langen Wartezeiten für die drei in Frage kommenden Kliniken einher und wird von manchen Krankenkassen auch oft dann nicht gewünscht, wenn eine klare Indikation für diese Behandlung vorliegt und künftige Kosteneinsparungen dadurch möglich würden.

    Ansprechpartner:
    Privatdozent Dr. Werner Köpp
    Prof. Dr. Hans-Henning Studt (Abteilungsleiter)
    Prof. Dr. Hans-Christian Deter
    Universitätsklinikum Benjamin Franklin
    Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie
    Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
    Tel.: (030) 8445-3996, Fax: -4590
    E-Mail: koeppwe@zedat.fu-berlin.de

    Pressekontakt:
    MWM-Vermittlung (UKBF-Pressestelle)
    Kirchweg 3 B, 14129 Berlin
    Tel.: (030) 803 96 86; Fax: 803 96 87
    E-Mail: ukbf@mwm-vermittlung.de

    Abdruck bzw. Verwendung frei . Belegexemplar erbeten an MWM-Vermittlung


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Organisatorisches
    Deutsch


     

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