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22.02.2000 08:49

Vom SS-Obersturmbannführer zum bundesdeutschen Ehrenmann

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Zwei Tübinger Historiker durchleuchten die Biographie eines schwäbischen Fabrikanten

    Geld aus Unternehmertaschen diente auch schon in den Gründungsjahren der Bundesrepublik der "politischen Landschaftspflege". Zu diesem Ergebnis kommen zwei Historiker der Universität Tübingen mit ihren Forschungen zur Biographie des Papierwarenfabrikanten Frietz Kiehn aus Trossingen. Dr. Cornelia Rauh-Kühne von der Abteilung für Neuere Geschichte des Historischen Seminars und Dr. Hartmut Berghoff von der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Wirtschaftswissenschaftlichen Seminars haben aufgrund von Recherchen in 20 Archiven und der Befragung von Zeitzeugen den Lebensweg des nationalsozialistischen Funktionärs und mittelständischen Unternehmers Fritz Kiehn (1885-1980) rekonstruiert. Sie haben diese bewegte politische Biographie, die viele exemplarische Züge der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 20. Jahrhundert trägt, nun in einem Buch zusammengefasst.

    Danach wurde Kiehn noch vor 1933 zu einem der wichtigsten Geldgeber und Aktivisten der württembergischen NSDAP. Er war Gründer der Trossinger Efka-Werke, ein wichtiger Hersteller von Zigarettenpapier. Nach der "Machtergreifung" zahlte sich das frühe Engagement für die "Hitler-Bewegung" in Form zahlreicher neuer Posten für den bewährten "alten Kämpfer" aus. Kiehn - von 1932 bis 1945 für die NSDAP im Reichstag - wurde unter anderem Präsident der Industrie- und Handelskammer Stuttgart und Leiter der "Wirtschaftskammer für Württemberg-Hohenzollern". 1938 gelangte er in den aus zahlungskräftigen Industriellen bestehenden "Freundeskreis Reichsführer SS". Diese privilegierte Stellung garantierte Kiehn, dass er im Wettlauf um die "Arisierung" jüdischen Eigentums nicht 'zu kurz' kam: Zu Preisen, die weit unter dem tatsächlichen Wert lagen, konnte er mehrere Unternehmen aus jüdischem Besitz aufkaufen.

    Doch überdauerte Kiehns auf Raub und Korruption gegründetes neues Imperium das Ende des NS-Regimes nicht. Nach fast vierjähriger Internierungshaft - der längsten, die im Land Württemberg verbüßt wurde -, durfte sich der Fabrikant glücklich schätzen, dass der Entnazifizierungselan der frühen Nachkriegszeit mittlerweile einem prinzipienlosen Pragmatismus gewichen war. Die Spruchkammer erklärte den prominenten NS-Funktionär zum "Minderbelasteten", beließ ihm - weil es Arbeitsplätze und Steuerkraft zu erhalten galt - sein Trossinger Unternehmen, sah von einem Berufsverbot ab und verhängte lediglich eine Geldstrafe.

    Schon 1949, kaum aus der Haft entlassen, hatte der wendige Unternehmer jedoch schon wieder wichtige politische Kontakte geknüpft, diesmal aber zu den Spitzen der demokratischen Parteien CDU und FDP. Diese Beziehungen nutzten nicht nur seiner politischen Rehabilitierung, sondern auch seinem Start in das Wirtschaftswunder. Ausgerechnet der ehemalige SS-Obersturm-bannführer und "Nutznießer" des NS-Unrechts erhielt noch vor dem Abschluss seiner Entnazifizierung vom Bundesland Württemberg-Hohenzollern einen millionenschweren Kredit, mit dem er seine unternehmerischen Expansionspläne fortsetzen konnte, die er wenige Jahre zuvor noch mit Rückendeckung Himmlers betrieben hatte. Die Folge war einer der ersten Subventionsskandale der jungen Bundesrepublik.

    Trotz einiger Gerichtsverfahren, die sich mit Kiehns Verhalten vor und nach 1945 befassten, konnte der Unternehmer seinen Rückweg in die "Ehrbarkeit" relativ geradlinig fortsetzen. Jedoch liebäugelte er nicht noch einmal mit rechtsradikalen Ideen oder Organisationen, sondern tauchte wie so viele ehemalige Nationalsozialisten gleichsam in den Wohlstand ab, so das Fazit der Tübinger Wissenschaftler.

    Kiehn wurde nach seiner Entnazifizierung Gründungsmitglied des Lions Klubs in Tuttlingen und Mitglied des "Freundeskreises der Universität Innsbruck", schließlich auch Ehrensenator dieser Universität. In der Kleinstadt Trossingen profilierte er sich als respektierter Arbeitgeber, wichtiger Steuerzahler und großzügiger Mäzen. So gab die Stadt Trossingen Fritz Kiehn 1955 stillschweigend seinen 1935 verliehenen Ehrenbürgertitel zurück, benannte einen Platz und eine öffentliche Turnhalle nach ihm. Trotz des Wissens um seine Rolle im 'Dritten Reich' wurde Kiehns Vergangenheit in seiner Wahlheimat zum Tabu. 1980 starb der Unternehmer als angesehener Einwohner Trossingens. Die Stadt steht bis heute zu ihrem "braunen Ehrenbürger".

    Die Ergebnisse der historischen Studien sind nachzulesen in:
    Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh-Kühne: Fritz K. - Ein deutsches Leben im 20. Jahrhundert. Stuttgart und München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2000, 49,80 DM.

    Nähere Informationen:

    Cornelia Rauh-Kühne
    Historisches Seminar, Abteilung für Neuere Geschichte
    Tel. 0 70 71 / 29 7 46 71
    Fax 0 70 71 / 29 58 74

    Hartmut Berghoff
    Wirtschaftswissenschaftliches Seminar, Abteilung Wirtschafts- und Sozialgeschichte
    Tel. 0 70 71 / 29 7 21 24
    Fax 0 70 71 / 29 52 23


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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